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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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waren. Einige Schüler schwammen auf der Fünfzigmeterbahn, auf der anderen Seite des Beckens spielte eine Gruppe von Jungen Wasserball. Jiris grüner Schopf leuchtete vom Rand des Kinderbeckens. Koivu starrte einem besonders wohlproportionierten Mädchen nach, das in einem knappen, goldfarbenen Bikini aus der Umkleidekabine kam. Ich wiederum kam zu dem Schluss, dass der etwa vierzigjährige Athlet mit der behaarten Brust, der mit den Wasserballern herumtollte, der Sportlehrer sein musste. Ohne mich um die Matschspuren zu kümmern, die meine Schuhe am Beckenrand hinterließen, ging ich zu den Spielern.
    »Guten Tag, ich bin Hauptkommissarin Maria Kallio von der Polizei Espoo. Wir würden gern mit Ihrem Schüler Jiri Merivaara sprechen.«
    »Schon wieder? Warum immer in der Sportstunde?«, fragte der Lehrer verärgert. »Das heißt, eigentlich ist es ja egal, er sitzt sowieso nur rum. Er weigert sich, im Hallenbad zu schwimmen, aber ins Meer kann ich ihn im Oktober auch nicht mehr lassen.«
    Der am Beckenrand hockende Jiri wirkte kindlich, vor allem neben seinen Mitschülerinnen, die wie erwachsene Frauen aussahen. Unter seiner Haut stachen das Rückgrat und die Rippen hervor. Er war blass, obwohl der letzte Sommer der heißeste und sonnigste des Jahrhunderts gewesen war.
    »Hallo, Jiri, jetzt darfst du hier raus«, sagte ich gewollt locker, doch ich hatte nicht den richtigen Ton getroffen. Sein Gesicht war verschlossen und alles andere als kindlich.
    »Wieso?«, fragte er.
    »Wir müssen auch mit dir über die Nacht sprechen, in der dein Vater gestorben ist. Zieh dich an, wir fahren aufs Präsidium.
    Anschließend bringen wir dich zurück zur Schule.«
    Jiris Klassenkameraden sahen ihm mit unverhohlener Neugier nach, als er sich mit Koivu in den Umkleideraum trollte.
    »Wird Jiri verhaftet?«, fragte ein an Nabel, Zunge und Unter-lippe gepierctes Mädchen mit dickem weißem Lidstrich und metallblau lackierten Nägeln.
    »Nein. Wir wollen nur mit ihm reden.«
    »Wegen seinem Vater? Ist der umgebracht worden?«
    Ich schüttelte den Kopf und ging zum Ausgang, ohne mich um die Frotzeleien zu kümmern, die mir nachflogen. Fünf Minuten später kam Jiri aus dem Umkleideraum; mit hochgerecktem Kinn marschierte er neben dem eins neunzig großen, breitschultrigen Koivu her und bemühte sich, gleichgültig zu wirken. Mit ihm ins Gespräch zu kommen war so mühsam, dass ich es vorzog, schweigend zum Auto zu gehen. Auf dem Präsidium würde ich wieder einmal die gleichen Fragen durchkauen: Wie hatte sich Juha Merivaara auf Rödskär verhalten? Hatte Jiri während der Nacht ungewöhnliche Geräusche gehört? Bei der Vernehmung von Verdächtigen und Zeugen ging es in erster Linie darum, immer wieder nachzufragen, Brüche und Inkonse-quenzen in lückenlos aufgebauten Lügengeschichten zu finden.
    Aber wäre Jiri wirklich imstande, seine Tat zu verheimlichen, wenn er den eigenen Vater getötet hätte?
    Koivu drehte am Radio herum, auf der Suche nach erträglicher Musik wechselte er von einem Sender zum anderen. Auf dem Klassikkanal ertönte eine Baritonstimme, die durchaus Tapio Holma gehören konnte. Koivu drehte rasch zum nächsten Sender weiter. »Ein kugelsicheres Herz hat noch keiner erfun-den«, sang Kalle Ahola von den Don Huonot, und ich summte mit. Aus den demonstrativen Seufzern von der Rückbank schloss ich, dass Jiri die Band nicht besonders mochte.
    Als wir am Firmengebäude der Merivaara AG vorbeifuhren, machte er plötzlich den Mund auf.
    »Gestern auf der Demo hab ich deinen Mann gesehen. Wieso lässt du ihn da mitmachen, obwohl du bei der Polizei bist?«
    »Warum sollte ich einen erwachsenen Menschen daran hindern? Vielleicht wäre ich sogar selbst mitgegangen, aber ich musste arbeiten. Unter anderem wegen des Mordes an deinem Vater.«
    Obwohl Jiri hinter mir saß, hörte ich, wie er nach Luft schnappte. Hatte Anne Merivaara ihren Kindern verschwiegen, dass die Polizei von Fremdverschulden ausging?
    »Meinst du wirklich, jemand hat ihn umgebracht? Es ist … es ist doch keiner verhaftet worden?«
    Ich drehte mich zu ihm um. Das Grün seiner feuchten Haare schien auf sein Gesicht abzufärben.
    »Wen hätten wir denn verhaften sollen?«
    Jiri antwortete nicht, wandte den Blick ab und sprach kein Wort mehr. Als ich ihn auf dem Gang zum Vernehmungsraum fragte, ob er etwas essen oder trinken wolle, schüttelte er den Kopf. Koivu holte Kaffee für uns beide. Das Gebräu war lauwarm und schmeckte noch bitterer als sonst,

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