Der Wind über den Klippen
ehemalige Kripochef, ein Mann, mit dem es nicht immer leicht war auszukommen. Natürlich musste er allen möglichen Behörden schöntun und gute Beziehungen zu denjenigen pflegen, die über die Finanzierung der Polizei bestimmten. Bei den Besprechungen, an denen ich im Lauf des Herbstes teilgenommen hatte, war mir aufgefallen, dass der Chef noch vorsichtiger geworden war als früher.
An sich hätte ich erleichtert sein müssen, denn nun brauchte sich unser überarbeitetes Dezernat nicht auch noch mit der Brandstiftung herumzuschlagen. Stattdessen verspürte ich Enttäuschung. Die Umtriebe der RdT interessierten mich allmählich, nicht nur wegen Jiri Merivaara.
»Und was nun? Lassen wir die Demonstranten laufen?«
»Im Gegenteil«, erklärte der Polizeipräsident zufrieden.
»Sie werden zum Verhör zur Sicherheitspolizei gebracht, wo man sie garantiert nicht mit Samthandschuhen anfassen wird.
Die Fahrzeuge warten schon.«
»Zwei sind unter fünfzehn, ihre Eltern sind auf dem Weg hierher.«
»Wer seine Kinder zu Terroristen erzieht, soll ihnen ruhig nachlaufen«, wetterte der Chef. Ich fragte mich, was Juha Merivaara dazu wohl gesagt hätte.
»Wer ist bei der Sicherheitspolizei für die Ermittlungen zu-ständig?«, fragte ich. Der Polizeipräsident wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus, doch da ich nicht lockerließ, verriet er mir schließlich, es handle sich um einen Oberinspektor namens Jormanainen.
Ich ging nicht mehr in den Seminarraum zurück, denn ich genierte mich für meine altjüngferliche Predigt. Stattdessen stieg ich die Treppen zu meinem Büro hinauf und rief bei der Sicherheitspolizei an. Jormanainen meldete sich sofort, offenbar wartete er auf die Ankunft der Festgenommenen.
»Kriminalhauptkommissarin Maria Kallio von der Polizei Espoo, guten Tag. Ich untersuche ein Kapitalverbrechen, das möglicherweise mit der Tätigkeit der Revolution der Tiere in Verbindung steht. Ich hätte gern von Ihnen vollständige Informationen über diese Organisation. Mich interessieren nur die Grundsätze und Strukturen, nicht die Aktivitäten einzelner Mitglieder. Die Angaben brauche ich sofort, vorzugsweise per E-Mail.«
Ich weigerte mich, seine Einwände zur Kenntnis zu nehmen, und schließlich erklärte Jormanainen sich bereit, mir ein Dossier zu schicken, allerdings nicht per E-Mail, die möglicherweise von Unbefugten gelesen werden konnte, sondern durch Kurier noch am selben Tag. Die erfolgreiche Auseinandersetzung hatte meinen Appetit wiederhergestellt. Zuerst ein ordentliches Mittagessen, dann war es an der Zeit, mit Riikka Merivaara zu sprechen. Wir hatten einen Durchsuchungsbefehl für das Haus der Familie, und ich würde mich mit Sicherheit nicht beherrschen können, einen Blick in Jiris Zimmer zu werfen.
Zehn
Das Meer war graublau wie Iidas Augen, der Wind trieb Schaumkronen in die Bucht. Vom Wohnzimmer im oberen Stock des Merivaara-Hauses bot sich ein überwältigender Anblick. Früher hatte auf dem Grundstück der Familienwohnsitz der Mutter von Martti Merivaara gestanden. Martti hatte ihn Mitte der sechziger Jahre abreißen lassen und einen zweistöckigen, der Uferlinie folgenden Bungalow gebaut, dem man deutlich ansah, dass er vor der Ölkrise Anfang der siebziger Jahre entstanden war: Die gesamte Wand zum Meer hin war ein einziges großes Fenster. Mit den hellen Holzwänden und den Aalto-Möbeln glich das Wohnzimmer fast einem Ausstellungs-raum.
Riikka war allein im Haus. Sie war sehr blass, die seitlich gescheitelten schwarzbraunen Haare fielen ihr wie ein Vorhang über die Stirn. Mit ihrem langen schwarzen Strickrock und der kittfarbenen Strickjacke wirkte sie wie ein kleines Mädchen, das Mutters Kleider angezogen hat. Hatte sie sich schon immer so viel konservativer gekleidet als junge Frauen in ihrem Alter, oder hatte die Romanze mit Tapio Holma zu einem Stilwandel geführt?
»Ihr habt beim letzten Mal Kleider und Schuhe mitgenommen.
Wann bekommen wir die zurück?«
»Sobald die Kriminaltechniker sie nicht mehr brauchen. Wo sind die anderen?«
»Mutter ist bei der Arbeit und Jiri in der Schule. Er müsste aber bald kommen, sie haben um zwei Uhr Schluss, glaube ich.«
Koivu warf mir einen sprechenden Blick zu, doch ich klärte Riikka nicht darüber auf, wo sich ihr Bruder zur Zeit befand.
»Riikka, wir müssen einen Termin für deine Vernehmung vereinbaren. Kannst du nächsten Montag gegen Mittag aufs Präsidium kommen?«
»Ich habe nächsten Montag um zwölf eine Prüfung in
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