Der Wind über den Klippen
herbeigezogen. Sie hätten beide nicht die Nerven dazu gehabt.
Ich stand auf, bevor die Versuchung, die Beine hochzulegen, übermächtig wurde.
»Zeigst du mir bitte das Schlafzimmer deiner Eltern?«
Riikka führte mich durch die breite Eingangshalle ans Ostende des Hauses. Das Elternschlafzimmer war geräumig, mindestens dreißig Quadratmeter groß. Vor dem wandbreiten Fenster schirmte ein Wäldchen das Grundstück vor den Blicken der Nachbarn ab. Das Zimmer war in heller Birke und Leinen eingerichtet, über dem Bett ging eine Graphik, ein Porträt von Anne Merivaara. Der einzige Stilbruch war das zweite Bild, ein romantisches Seestück, das ein Segelschiff vor einem Leuchtturm zeigte. Ich hatte das Gefühl, den Geruch von verbranntem Fleisch ins Zimmer zu tragen.
»Dein Vater hatte zu Hause kein Arbeitszimmer, nicht wahr?«, vergewisserte ich mich, da Koivu sich immer noch nicht blicken ließ.
»Nein. Und die Schränke haben die anderen Polizisten schon durchwühlt.«
An der Südwand des Schlafzimmers befand sich ein begehba-rer Kleiderschrank. Juha Merivaaras Kleidung war teuer und konservativ. Neben den Anzügen hing Freizeitkleidung, die er auf See und beim Tennis getragen haben mochte. Ich hatte zwar nicht erwartet, Abendkleider oder Spitzenwäsche in Männergrö-
ße zu entdecken, war aber dennoch enttäuscht, auch in Juha Merivaaras Schlafzimmer nichts zu finden, das den geringsten Aufschluss über ihn gegeben hätte.
»Und Jiris Zimmer?«, fragte ich in der Gewissheit, dass die Sicherheitspolizei früher oder später anrücken würde.
»Was ist damit?« Der Ärger in ihrer Stimme konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Angst um ihren Bruder hatte.
Offenbar war ich nicht die Einzige, die Jiri für den Hauptverdächtigen hielt.
»Der Durchsuchungsbefehl gilt für das ganze Haus. Ich möch-te mir sein Zimmer ansehen.«
»Es ist neben der Küche. Jiri will aber nicht, dass man es ohne seine Erlaubnis betritt.«
»Maria!«, rief Koivu aus dem Flur, von dem eine Tür zur Garage führte. »Komm mal her!«
Ich ließ Riikka die Decke auf dem Bett ihrer Eltern glatt ziehen und lief durch den Flur in die Garage. Sie bot Platz für zwei Autos, doch Anne hatte mir erzählt, die Familie habe den Zweitwagen abgeschafft und sich angewöhnt, den Bus zu benutzen. Den freien Stellplatz füllten nun nagelneue Mountainbikes, Bootsleinen, Planen und Farbdosen.
»Man merkt, dass wir in der Garage eines Farbfabrikanten sind. Mit dem Zeug könnte man einen ganzen Ozeankreuzer streichen«, ächzte Koivu.
»Das ist kein Bootslack von der Merivaara AG, sondern ganz normale Wandfarbe«, lächelte ich und hob die Planen an, unter denen sich jedoch nur gewöhnliches Werkzeug befand.
»Hier sind auch ausländische Dosen. Was ist das denn für eine Sprache? Saugoti nuo saulés sviesos«, buchstabierte Koivu mühsam. »Sudetis … Estnisch ist das nicht und Polnisch auch nicht.«
»Lettisch oder Litauisch, die beiden kann ich nicht auseinander halten. Seltsam, dass Merivaara Konkurrenzprodukte in seiner Garage lagert. Wolltest du mir etwas Bestimmtes zeigen?«
»Diese Taschenlampe«, sagte Koivu und versuchte gleichmü-
tig zu wirken, obwohl seine Augen glänzten. Er hatte dünne Latexhandschuhe übergestreift und nahm eine etwa dreißig Zentimeter lange Taschenlampe von dem Metallregal an der Rückwand. Das Glas an der Lampe war zerbrochen.
»Ich war schon am Montag hier, aber diese Lampe habe ich nicht gesehen.«
Ich nickte. Ich hatte lange genug mit Koivu zusammengearbeitet, um zu wissen, dass er ungefähr dasselbe dachte wie ich: Die Person, die die Lampe hier abgelegt hatte, war überzeugt gewesen, die Polizei würde die Garage kein zweites Mal untersuchen.
»Schick sie ins Labor. Die Techniker sollen nach Fingerabdrü-
cken suchen und feststellen, ob das Glas den Splittern in Juha Merivaaras Wunde entspricht. Wenn wir Glück haben, finden sich sogar noch Blutspuren.«
Im Übrigen gab es in der Garage nichts Interessantes, Koivu zufolge sah alles so aus wie bei seinem vorigen Besuch. Also kehrten wir ins Haus zurück. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick in die Küche. Sie war hell und steril wie ein Labor. Ein Mixer, zwei Pürierstäbe, eine Saftpresse, Keimschalen und die Kräutertöpfe auf dem Fensterbrett ließen darauf schließen, dass in dieser Küche oft und gesund gekocht wurde.
Vor dem Fenster in Jiris Zimmer hing ein dicker schwarzer Vorhang. Die dunkellila gestrichenen Wände
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