Der Windsänger
die Prüflinge mit natürlicher Begabung kommen zum Ziel, sondern alle, die hart arbeiten.« Er hielt die braunen Bücher nacheinander hoch. »Mathematik. Sprachlehre. Allgemeine Naturwissenschaften. Allgemeine Geisteswissenschaften. Alles, was Sie für die Große Prüfung wissen müssen, steht in diesen vier Lehrbüchern. Lesen. Behalten. Wiederholen. Mehr müssen Sie nicht tun. Lesen. Behalten. Wiederholen.«
Hanno Hath bekam nichts davon mit. Er konnte an nichts als seine Familie denken. In der Morgenpause wanderte er auf dem von hohen Mauern umgebenen Hof herum und versuchte sich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bekommen. Seit er von zu Hause fort war, hatte er keine Neuigkeiten gehört. Das konnte nur bedeuten, dass man Kestrel nicht gefasst hatte und sie sich noch immer irgendwo in der Stadt versteckt hielt. Wenn das zutraf, war es nur eine Frage der Zeit, dass man sie fand, denn sie hatte keine Chance, Aramanth zu verlassen.
Diese quälenden Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, bis er ein leises Schluchzen wahrnahm und stehen blieb. Einer der anderen Kandidaten, ein kleiner Mann mit schütterem grauen Haar, stand mit dem Gesicht zur Wand und weinte.
Hanno näherte sich ihm. »Was ist los?«
»Ach, nichts«, antwortete der Mann und tupfte sich die Augen ab. »Manchmal kann ich einfach nicht anders.«
»Ist es wegen der Großen Prüfung?«
Der kleine Mann nickte. »Ich bemühe mich ja. Aber sobald ich mich an meinen Tisch setze, ist alles, was ich gelernt habe, wie weggeblasen.«
Der Mann hieß Miko Mimilith, war Schneider und lebte mit seiner Familie im Kastanienbraunen Bezirk. Er arbeite hart, erzählte er, und verstehe sich auf sein Handwerk, aber die jährliche Große Prüfung bereitete ihm schreckliche Angst.
»Ich werde dieses Jahr siebenundvierzig Jahre alt«, sagte er. »Und ich habe die Große Prüfung fünfundzwanzigmal mitgemacht. Es ist immer das Gleiche.«
»Können Sie denn keine der Fragen beantworten?«
»Ich kann die Rechenaufgaben, zumindest ein paar davon, wenn ich nicht zu nervös bin. Das ist auch schon alles.«
»Sie Glücklicher.« Dies sagte ein recht junger Mann mit blondem Haar, der ihre Unterhaltung mitgehört hatte. »Ich wünschte, ich könnte die Rechenaufgaben lösen. Wenn sie mich nach Schmetterlingen fragen würden, dann könnte ich ihnen schon etwas erzählen.«
»Oder Wolkenbildung«, warf ein dritter Mann ein.
»Ich kenne jeden Schmetterling, der je in Aramanth gesehen wurde«, erklärte der blonde junge Mann ernst. »Und einen, der schon seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen wurde.«
»Fragen Sie mich etwas über Wolken«, sagte der dritte Mann, der sich nicht ausstechen lassen wollte. »Nennen Sie mir Windstärke, Windrichtung und Lufttemperatur und ich sage Ihnen, wo und wann es regnen wird.«
»Ich würde gerne über Stoffe befragt werden«, sagte der kleine Miko Mimilith und strich dabei mit seinen zierlichen Fingern durch die Luft. »Feine Baumwolle, kühles Leinen, warmer, wolliger Tweed. Ich kenne sie alle. Sie können mir die Augen verbinden und die Spitze meines kleinen Fingers auf ein Stück Stoff legen, dann sage ich Ihnen, was es ist, und wahrscheinlich sogar, wo es gewebt wurde.«
Hanno Hath schaute von einem zum anderen und stellte fest, dass der dumpfe, lustlose Blick aus ihren Augen verschwunden war, dass sie stolz die Köpfe hochhielten und sich gegenseitig in ihrem Erzähleifer übertrafen.
»Ach, wäre es nicht schön«, meinte der Wolkenspezialist mit einem tiefen Seufzen, »wenn wir auf einem Gebiet geprüft werden könnten, auf dem wir uns wirklich auskennen?«
»Ja, so sollte es eigentlich sein«, erwiderte Hanno Hath.
Bevor er das näher erläutern konnte, dröhnte Direktor Pillishs Stimme zu ihnen herüber.
»Kandidat Hath! Melden Sie sich im Büro des Direktors!«
Als Hanno das von Bücherregalen gesäumte Büro betrat, unterhielt sich Direktor Pillish gerade mit dem Obersten Prüfer Maslo Inch persönlich.
»Ah, da ist er ja«, sagte der Direktor. »Soll ich mich zurückziehen?«
»Nicht nötig«, entgegnete Maslo Inch. Er lächelte Hanno kühl an. »Nun, mein alter Freund. Ich hasse es, dich beim Lernen stören zu müssen. Aber du willst doch sicher wissen, was aus deinen Kindern geworden ist.«
Hanno gab keine Antwort, doch sein Herz begann aufgeregt zu pochen.
»Ich habe keine guten Nachrichten. Sie wurden gestern Mittag dabei gesehen, wie sie in den
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