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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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sie mit Pinpin auf der Straße war, stellte sie fest, dass sie von jedem Passanten höhnisch und feindselig angestarrt wurde. Niemand ging auf sie zu oder sprach mit ihr. Alle Leute starrten sie einfach nur spöttisch an. 
    In der Nähe gab es eine Bäckerei, in der Ira ein paar Weizenbrötchen fürs Frühstück kaufen wollte. Die Bäckersfrau starrte sie ebenso unverschämt an, und als sie Ira das Gebäck reichte, sagte sie: »In Orange isst man bestimmt keine Weizenbrötchen.« 
    »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Ira überrascht. 
    »Oh, in Orange gibt es sicher feines Gebäck«, gab die Bäckersfrau zurück und schüttelte sich den Pony aus den Augen. »Sicher ein ziemlicher Abstieg für Sie.« 
    Draußen auf der Straße hatte sich eine Gruppe grau gekleideter Nachbarn versammelt. Alle zischelten und gluckten zusammen wie Hühner. Eine Frau, die mit ihrer Familie auf demselben Flur wie die Haths wohnte, stürzte plötzlich vor und sagte spitz: »Sie brauchen hier gar nicht wie was Bessres zu tun. Grau reicht für uns, also reicht’s für Sie schon lange.« 
    Erst jetzt begriff Ira, dass sie in all der Hektik und in all dem Durcheinander des Umzugs vergessen hatte ihre Kleidung zu wechseln. Sie und Pinpin trugen noch immer Orange. 
    Ein anderer Nachbar rief: »Wir haben Sie gemeldet! Jetzt stecken Sie in Schwierigkeiten, und das geschieht Ihnen ganz recht!« 
    »Ich hab es vergessen«, sagte Ira. 
    »Ach, sie hat’s vergessen! Sie dachte, sie war noch in Orange!« 
    »Sie ist nichts Bessres als wir. Nicht mit so verwahrlosten Kindern, die wie Ratten auf der Straße leben.« 
    »Schaut euch nur ihr armes Würmchen an! Das gehört sich nicht, basta.« 
    Pinpin fing an zu weinen. Ira blickte von einem Gesicht zum anderen und sah überall den gleichen hasserfüllten Ausdruck. 
    »Ich halte mich nicht für etwas Besseres«, verteidigte sie sich. »Ich bin nur im Moment allein, und das ist nicht gerade einfach.« Das war im Grunde eine Bitte um Verständnis, doch Ira sprach mit so ruhiger Stimme, dass sie ihre Nachbarn nur noch mehr gegen sich aufbrachte. 
    »Wessen Schuld ist denn das?«, fauchte Mrs. Mooth, die Frau vom selben Flur. »Ihr Mann sollte halt härter arbeiten! Man kriegt nichts geschenkt auf der Welt!« 
    O unglückliches Volk, dachte Ira Hath bei sich. Doch sie sagte nichts mehr. Stattdessen nahm sie die weinende Pinpin auf den Arm, stieg die drei Stockwerke wieder hinauf und ging den düsteren Gang bis zu Nummer 318, Block 29 im Grauen Bezirk zurück – dem einzelnen Zimmer, das nun ihr neues Zuhause war. 
    Sie hatte ihren Nachbarn nicht geantwortet, doch als sie die Tür hinter sich geschlossen und Pinpin abgesetzt hatte, schäumte sie vor Wut. Sie vermisste ihren Mann schrecklich, war fast verrückt vor Sorge um die Zwillinge und hasste die Bewohner des Grauen Bezirks aus tiefstem Herzen. 
    Sie setzte sich aufs Bett, das den halben Raum einnahm, und schaute aus dem kleinen Fenster zum Block 28 auf der anderen Straßenseite hinüber. Die Hochhäuser waren aus grauem Beton, die Wände ihres Zimmers aus ungestrichenem grauen Zement. Der einzige Vorhang war grau, die Tür ebenfalls. Die einzige Farbe im Zimmer war die ihrer orangefarbenen Kleidung und der gestreiften Tagesdecke, die sie aus dem Orangefarbenen Bezirk mitgebracht hatte und auf der sie nun saß. 
    »O meine Lieblinge«, sagte sie laut. »Bitte kommt nach Hause…« 
    Ungefähr zur selben Zeit saß Hanno Hath zwischen zweiundvierzig weiteren »Kandidaten« an seinem Tisch im größten Seminarraum der Internatslehranstalt und lauschte den Worten von Direktor Pillish, der behauptete, er wolle ihnen ja nur helfen. 
    »Sie alle haben bei den vergangenen Großen Prüfungen sehr schlecht abgeschnitten«, hob er in dem Tonfall an, in dem er mit den gleichen Worten schon unzählige Male zuvor das Gleiche gesagt hatte. »Sie alle haben sich selbst und ihre Familien enttäuscht, und das tut Ihnen sehr Leid. Sie sind hier, um die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen, und ich bin hier, um Ihnen dabei zu helfen. Aber in allererster Linie sind Sie hier, um sich selbst zu helfen, denn die einzige Möglichkeit, Ihre leidige Situation zu ändern, ist harte Arbeit.« Er klatschte in die Hände, um diesen letzten, wichtigsten Punkt zu betonen, und wiederholte: »Harte Arbeit!« Dann nahm er vier braun eingebundene Bücher zur Hand. »Die Große Prüfung ist nicht sonderlich schwer. Die Fragen sind breit gestreut. Nicht allein

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