Der Windsänger
wartete geduldig, drang immer tiefer in ihre Gedanken ein und stieß schließlich auf Angst, so schwarz und still wie die Nacht. Und dort – plötzlich spürte er es – tat sich ein Loch auf, eine Leere, ein Nichts, und dahinter unendliches Grauen.
Ohne sich dessen bewusst zu sein schrie er laut auf. »Aah! Wie furchtbar!«
»Was ist los?«, fragte Kestrel besorgt.
»Sie wird sterben«, flüsterte Bowman mit zitternder Stimme. »Es ist so nah und so furchtbar! Ich hätte nie gedacht, dass Sterben so schrecklich ist.«
Da fing die Alte Königin an zu sprechen, mehr zu sich selbst als zu Bowman. »Zu müde zum Leben«, sagte sie und ihre krächzende Stimme klang plötzlich belustigt. »Zu viel Angst vor dem Tod.« Und während sie sprach, rannen ihr Tränen über die runzligen Wangen. Sie schlug die Augen auf und schaute Bowman durchdringend an. »Ah, kleiner Schmächti, wie hast du dich in mein Herz geschlichen?«
Bowman weinte ebenfalls – nicht weil er traurig war, sondern weil er die Gefühle der Alten Königin in sich spürte. Sie hob ihre dünnen, zitternden Arme. Bowman wusste, was sie wollte, kletterte auf ihren Sessel und ließ sich von ihr umarmen. Sie drückte ihre feuchte Wange an sein Gesicht und ihre Tränen liefen ineinander.
»Du bist ein kleiner Dieb«, murmelte sie. »Du bist man ein kleiner Herzensdieb.«
Kestrel sah stolz und voller Verwunderung zu. Obwohl sie Bowmans Zwillingsschwester war und sich ihm manchmal so nah fühlte, als hätten sie nur einen Körper, verstand sie nicht, wie er sich in die Gefühle anderer Menschen schleichen konnte. Doch sie liebte ihn dafür.
»Schon gut«, tröstete die Alte Königin sich und Bowman gleichermaßen. »Es hat keinen Zweck, deswegen zu weinen.«
Königin Num schaute ergriffen zu. »Oje«, sagte sie. »Ojemine!«
»Es ist nicht zu ändern«, sagte die Alte Königin und strich Bowman über das schlämm verkrustete Haar. »Es ist nicht zu ändern.«
»Bitte«, fragte Bowman, »können Sie uns helfen?«
»Wobei kann eine alte Dame wie ich schon helfen, mein Junge?«
»Erzählen Sie uns von…« Er zögerte, als er Kestrels lautlose Warnung auffing. »Von dem, den Sie nicht beim Namen nennen.«
»Ach so, darum geht es.« Sie streichelte ihn schweigend weiter. Dann begann sie mit einer entrückten Stimme zu sprechen. »Es heißt, der Namenlose schliefe und dürfe niemals geweckt werden, weil… Es gibt einen Grund, aber ich habe ihn vergessen. Es ist alles so furchtbar lange her. Ah! Wartet! Jetzt weiß ich es wieder…« Ihre Augen weiteten sich, als sie sich an eine längst vergessene Angst erinnerte. »Sie marschieren und sie töten und sie marschieren weiter. Kein Erbarmen. Kein Entkommen. O meine Lieben, lasst mich sterben, bevor die Saren wiederkommen.« Sie blickte in die düstere Leere vor sich, starr vor Angst, als könnte sie die Saren in diesem Augenblick kommen sehen.
»Die Saren!«
»O meine kleinen Schmächtis!«, sagte die Alte Königin zitternd. »All die langen Jahre hatte ich es vergessen. Meine Großmutter hat mir schreckliche Geschichten erzählt. Ihre Großmutter hat die Saren zum letzten Mal marschieren sehen – oh, es war grauenvoll. Besser wir sterben alle, als dass die Saren wieder marschieren.«
Sie atmete schwer und wirkte erschöpft. Königin Num trat vor.
»Das reicht, meine Liebe. Ruhe dich jetzt aus.«
»Wir wissen, wie der Windsänger wieder singen kann«, sagte Kestrel.
»Ah…« Die Alte Königin schien sich zu beruhigen, als sie das hörte. »Der Windsänger… Wenn ich den Gesang des Windsängers hören könnte, hätte ich keine Angst mehr…«
Kestrel zog die Karte heraus und rollte sie für die Alte Königin auseinander. »Hierhin müssen wir gehen«, erklärte sie. »Aber wir können die Karte nicht lesen.«
Die Alte Königin nahm die Karte und betrachtete sie mit feuchten Augen. Während sie sie studierte, seufzte sie mehrmals, als trauere sie einer längst vergangenen Zeit nach. »Woher hast du sie, meine Kleine?«
»Vom Kaiser.«
»Kaiser! Pah! Kaiser von was, würd ich gern wissen.«
»Können Sie sie lesen?«
»Lesen? O ja…« Sie hob einen zittrigen, runzligen Finger und fuhr damit über die gestrichelte Linie auf dem vergilbten Papier. »Das hier ist der so genannte Große Weg… Ach, früher war er wunderschön! Es gab dort Riesen, die einem den Weg zeigten. Als kleines Mädchen hab ich sie gesehen…« Der knochige Finger wanderte
Weitere Kostenlose Bücher