Der Windsänger
zu erklären, wie er und die übrigen Kandidaten ihr Bestes geben wollten. Die Idee war Hanno gekommen, als er Miko Mimilith über die verschiedenartigen Stoffe sprechen hören hatte, mit denen er arbeitete. Wenn Miko eine Prüfung über Stoffe ablegen könnte, hatte er gedacht, dann hätte er keine Angst mehr davor. Und danach war ihm gleich ein weiterer Gedanke gekommen: Mikos Kenntnisse über Stoffe sind sein spezielles Fachwissen und zugleich seine Leidenschaft. Warum wird er in anderen Fächern geprüft, in denen er nur scheitern kann? Jeder von uns sollte auf dem Gebiet geprüft werden, auf dem er sich am besten auskennt.
Genau das erzählte er seinen neuen Freunden aus dem Kurs.
»Das ist ja alles gut und schön«, antworteten sie. »Aber dazu wird es nie kommen.«
Bei der Großen Prüfung wurden über hundert Fragen gestellt, und wenn die Kandidaten Glück hatten, gab es darunter vielleicht eine einzige über Stoffe oder Wolkenbildung.
»Beachtet die Fragen auf dem Papier gar nicht«, schlug Hanno vor. »Schreibt über das, was ihr am besten wisst. Gebt ihnen euer Bestes.«
»Sie werden uns durchfallen lassen.«
»Sie werden uns auch durchfallen lassen, wenn wir versuchen ihre Fragen zu beantworten.«
Alle nickten. Das stimmte natürlich. Deshalb nahmen sie ja an diesem Lehrgang teil – bisher waren sie immer durchgefallen. Warum sollte es diesmal anders sein?
»Wozu sollen wir es also überhaupt erst versuchen?«, beharrte Hanno vorsichtig. »Das ist so, als würde man Fische im Fliegen prüfen. Wieso macht nicht jeder von uns das, was er am besten kann?«
»Sie werden vor Wut kochen.«
»Sollen sie ruhig. Wollt ihr wieder vier Stunden lang mit panischer Angst in der Arena sitzen?«
Das überzeugte sie schließlich. Jedem von ihnen graute vor der langen Erniedrigung der Prüfung noch mehr als vor dem Ergebnis. Jedes verhasste Detail hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Der schwere Gang zum nummerierten Tisch. Das Scharren von tausend Stühlen, die zurückgezogen wurden. Das Rascheln von tausend Prüfungsbögen, die umgedreht wurden. Der Geruch der frisch bedruckten Blätter. Die tanzenden schwarzen Buchstaben auf dem Papier, die sinnlose Wörter bildeten. Das gleichmäßige Kratzen der Füller um sie herum, wenn die gut vorbereiteten Kandidaten mit dem Beantworten der Fragen begannen. Das Tappen der weichen Sohlen der Aufsicht habenden Prüfer, die durch die Reihen schlenderten. Die schreckliche Panik, schreiben zu müssen – egal, was. Die tiefe, dumpfe Gewissheit, dass nichts von dem, was man schrieb, richtig, gut oder schön sein würde. Das quälend langsame Weiterrücken der Uhrzeiger. Die ständig wachsende, lähmende Verzweiflung.
Alles, nur das nicht.
Also schloss sich einer nach dem anderen Hannos geheimem Protestakt an. In ihren Vorbereitungsstunden übten sie Aufsätze über selbst gewählte Themen zu verfassen. Sie schrieben über Entwässerungssysteme, Kohlanbau und Varianten beim Seilspringen. Miko Mimilith arbeitete eindeutige Unterscheidungsmerkmale für Wollstoffe heraus. Hanno Hath befasste sich mit Problemen der alten Manth-Schrift. Nur der kleine Scooch schrieb überhaupt nichts. Er kauerte auf seinem Stuhl und starrte an die Wand.
»Mit irgendwas musst du dich doch auskennen«, sagte Hanno zu ihm.
»Tu ich aber nicht«, entgegnete Scooch. »Ich kenne mich mit gar nichts aus. Ich mache nur, was man mir sagt.«
»Gibt es nichts, was du nach der Arbeit gern tust?«
»Ich setze mich gern hin«, antwortete Scooch.
Hanno Hath seufzte. »Du musst aber irgendetwas schreiben«, sagte er. »Warum schilderst du nicht einfach einen typischen Tag in deinem Leben?«
»Wie meinst du das, schildern?«
»Fang einfach morgens an, wenn du aufstehst, und schreib auf, wie du den Tag verbringst.«
»Ich frühstücke. Ich gehe zur Arbeit. Ich komme nach Hause. Ich esse zu Abend. Ich gehe schlafen.«
»Gut. Jetzt brauchst du nur noch ein paar Details einzufügen. Vielleicht was du zum Frühstück isst. Oder was du auf dem Weg zur Arbeit siehst.«
»Das scheint mir nicht besonders interessant zu sein.«
»Es ist zumindest interessanter als die Wand anzustarren.«
Also machte sich Scooch daran, einen typischen Tag in seinem Leben zu schildern. Nach etwa einer Stunde konzentrierter Arbeit hatte er die erste Hälfte seines Vormittags bis zur Pause beschrieben und machte eine überraschende Entdeckung. Als es zur
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