Der Windsänger
Vormittagspause der Kandidaten läutete, eilte er zu Hanno Hath hinüber, um ihm davon zu erzählen.
»Ich habe etwas gefunden, womit ich mich auskenne«, verkündete er. »In der Großen Prüfung werde ich darüber schreiben.«
»Das ist ja großartig«, erwiderte Hanno. »Was ist es denn?«
»Teepausen.« Scooch strahlte ihn an und sein Gesicht glühte vor Stolz. »Bevor ich anfing meinen Tag zu schildern, wusste ich es noch nicht, aber was ich am allermeisten auf der Welt mag, sind Teepausen.«
Während der nächsten halben Stunde erklärte er dem geduldigen Hanno Hath, wie sehr er sich von dem Moment an, da er zu arbeiten begann, auf seine Teepause freute. Wie seine Vorfreude wuchs, je näher der Zeitpunkt heranrückte. Wie er beim Hinlegen seines Besens und beim Herausholen seiner Thermosflasche ein beinahe vollkommenes Glück empfand. Wie er den Dampf einatmete, der aus der Flasche emporstieg, wenn er den Deckel abnahm und den heißen goldenen Tee in seine Tasse goss. Wie er seine drei Haferkekse aus dem glatten Butterbrotpapier auswickelte und nacheinander in den Tee tauchte. Ach, das Eintauchen der Kekse! Das war der große Augenblick der Teepause – der Moment der Spannung und Belohnung, die Geschicklichkeitsprobe und die Begegnung mit dem Unbekannten. Manchmal, wenn er den richtigen Moment abpasste, schob er den süßen, teedurchtränkten Keks ganz in den Mund, so dass er auf seiner Zunge zergehen konnte. Manchmal tauchte er ihn aber auch zu lange in den Tee oder zog ihn zu plötzlich oder in einem zu spitzen Winkel heraus, so dass ein großes Stück abbrach und auf den Boden der Tasse sank. Genau das machte die Teepausen zu einem faszinierenden Erlebnis – nicht zu wissen, wann und ob so etwas passieren würde.
»Also wirklich«, sagte Hanno nachdenklich, »irgendjemand sollte herausfinden, wie man einen Keks herstellt, der zwar weich wird, wenn man ihn in den Tee taucht, aber nicht zerbricht.«
»Einen Keks herstellen?«, fragte Scooch erstaunt. »Du meinst, eine völlig neue Art von Keksen erfinden?«
»Genau«, erwiderte Hanno.
»Na so was!«, rief Scooch und dachte darüber nach. Erfinder von Keksen zu sein! Das wäre doch etwas.
Auf diese und viele andere Weisen bereiteten sich die Kandidaten des Internatslehrganges, angeregt durch Hannos sanfte Anleitung, mit wachsendem Eifer auf den Tag der Großen Prüfung vor. Zum ersten Mal in ihrem Leben würden sie ihr Bestes geben, ob es nun erwünscht war oder nicht.
Ira und Pinpin Hath blieben die ganze Nacht auf dem Windsänger. Wie sich herausstellte, hatte Ira vorgesorgt und in ihrem großen Korb ausreichend Essen und Decken mitgebracht. Sie hatte sogar an Pinpins Schlafanzug und ihr Lieblingskissen gedacht.
Als man sie am nächsten Morgen noch immer dort vorfand, versammelte sich wieder eine lachende und spottende Menschenmenge.
»Na los, wir wollen Prophezeiungen hören!«, riefen die Leute. »Los, sagen Sie ›O unglückliches Volk‹!«
»O unglückliches Volk«, sagte Ira Hath. Sie sprach gelassener, als ihnen lieb war, und irgendwie klang es auch nicht mehr so lustig. Dann wiederholte sie leise und traurig: »O unglückliches Volk. Keine Armut. Keine Verbrechen. Kein Krieg. Keine menschliche Wärme.«
Das war überhaupt nicht mehr lustig. Die Menschen in der Menge scharrten mit den Füßen und trauten sich nicht, sich in die Augen zu schauen.
Dann sagte Ira Hath zum dritten Mal, diesmal noch leiser: »O unglückliches Volk. Ich höre eure Herzen weinen, weil ihr euch nach menschlicher Wärme sehnt.«
Niemand sagte jemals solche Dinge in Aramanth. Die Menschen hörten sie in schockiertem Schweigen. Dann gingen sie fort, allein oder zu zweit. Da wusste Ira Hath, dass sie sich als wahre Prophetin bewiesen hatte, denn niemand konnte es ertragen, ihr zuzuhören.
Die Prüfungskommission diskutierte das Thema in ihrer Vormittagssitzung. Dr. Greeth sprach sich weiterhin gegen ein Einschreiten aus.
»Die Frau kann dort nicht mehr lange aushalten. So kann jeder sehen, wie nutzlos ein derartiges Verhalten ist. Sie wird es selbst früh genug begreifen. Und was wird sie dann tun? Sie wird herunterklettern.«
Dr. Greeth war äußerst zufrieden mit dieser Formulierung. Kurz und präzis hatte er seinen Standpunkt klar gemacht, dachte er. Doch der Oberste Prüfer lächelte nicht. »Ich kenne diese Familie«, sagte er. »Der Vater ist ein verbitterter Versager. Die Mutter ist verrückt. Die älteren Kinder
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