Der Windsänger
schneidenden Stimme, »das hier ist kein Zirkus. Und Sie sind kein Clown. Sie werden sofort herunterkommen und sich in der für Sie angemessenen Farbe kleiden.«
»Nein, werde ich nicht«, gab Ira Hath zurück.
Dr. Greeth nickte den Konstablern kurz zu. »Holen Sie sie herunter!«
Die Prophetin richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und rief mit ihrer prophetischsten Stimme: »O unglückliches Volk! Merket auf und seht, dass es keine Freiheit in Aramanth gibt!«
»Keine Freiheit in Aramanth?«, wiederholte Dr. Greeth aufgebracht.
»Ich bin Ira Hath, direkte weibliche Nachfahrin des Propheten Ira Manth, und ich bin gekommen den Menschen zu prophezeien!«
Dr. Greeth gab den Konstablern ein Zeichen zu warten. »Madam«, sagte er laut, damit ihn alle Zuschauer hören konnten. »Sie reden Unsinn. Sie haben das Glück, in der einzigen wirklich freien Gesellschaft zu leben, die es je gegeben hat. In Aramanth werden jede Frau und jeder Mann gleich geboren und haben die gleichen Chancen, zum höchsten Rang aufzusteigen. Es gibt hier keine Armut, keine Verbrechen, keinen Krieg. Wir brauchen keine Propheten.«
»Und dennoch«, rief die Prophetin, »fürchtet ihr mich!«
Das war ein geschickter Schachzug, wie Dr. Greeth sofort merkte. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn er überreagierte.
»Sie irren sich, Madam. Wir fürchten Sie nicht. Sie machen uns nur ein bisschen zu viel Krach.«
Die Menge lachte. Dr. Greeth war zufrieden. Es gab keinen Grund, Gewalt anzuwenden, die Leute würden nur Mitleid mit der Frau haben. Das Klügste war, sie einfach auf ihrem Thron sitzen zu lassen, bis sie zu frieren begann, hungrig wurde und von selbst herunterkam.
Um seine Autorität wieder geltend zu machen, befahl er den Konstablern nur die Menge zu zerstreuen. »Zurück an die Arbeit!«, rief er. »Soll sie doch allein prophezeien, was sie zu Abend essen wird.«
Hanno Hath, der in der Internatslehranstalt von der Außenwelt abgeschnitten war, erfuhr erst beim Mittagessen von dem Protestakt seiner Frau. Die Serviererinnen flüsterten sich aufgeregt den neuesten Klatsch zu, während sie den Kandidaten Gemüseeintopf auf die Teller schöpften. Eine Verrückte, die sich als Clown verkleidet habe, sitze auf dem Windsänger und erzähle allen Leuten, dass sie unglücklich seien, berichteten sie. Hanno erkannte den Stil seiner Frau sofort. Stolz und Sorge erfüllten ihn. Er fragte die Serviererinnen nach Einzelheiten aus. Hatten die Behörden versucht die Verrückte mit Gewalt vom Windsänger herunterzuholen?
»O nein«, antwortete das Mädchen am Milchreistopf. »Sie amüsieren sich genauso darüber wie wir anderen.«
Dies beruhigte Hanno und bestärkte ihn zugleich in seinem Entschluss. Bis zur Großen Prüfung waren es nur noch zwei Tage und sein eigener kleiner Protestakt war weitgehend vorbereitet. Nach und nach hatten alle Kandidaten seinem Plan zugestimmt, bis auf einen einzigen, einen Fabrikputzer namens Scooch, der nicht zu überzeugen war. Der Plan hatte es mit sich gebracht, dass sich die Stimmung im Kurs wandelte. Hatten die Kandidaten vorher stumpf in ihre Lehrbücher gestarrt und mit mutlosen Blicken den Vorträgen des Direktors gelauscht, so widmeten sie sich nun voller Eifer ihren Aufgaben.
Direktor Pillish bemerkte es mit Genugtuung. Er hatte den Eindruck, dass sich die Kandidaten gegenseitig halfen, ihre negative Einstellung zu Prüfungen zu überwinden, und das ließ gute Ergebnisse erwarten. Er beobachtete, dass der sanfte, ruhige Hanno Hath im Mittelpunkt dieser neuen Begeisterung stand. Da er gern wissen wollte, was dieser seinen Mitkandidaten erzählt hatte, bestellte er ihn zu einem persönlichen Gespräch in sein Büro.
»Ich bin sehr beeindruckt, Hath«, sagte er. »Worin liegt Ihr Geheimnis?«
»Oh, das ist ganz einfach«, antwortete Hanno. »Wir haben hier Zeit, um über den wahren Wert von Prüfungen nachzudenken. Wir haben eingesehen, dass eine Prüfung dazu da ist, unser Bestes darzustellen. Also geben wir unser Bestes
– wie auch immer das Ergebnis ausfallen mag, wir werden uns gern daran messen lassen.«
»Bravo!«, rief Direktor Pillish aus. »Das ist eine echte Wende. Ich kann es Ihnen ja ruhig sagen, Hath, in Ihrer Akte ist Ihre Einstellung als hoffnungslos negativ vermerkt. Aber das ist großartig! Ihr Bestes geben – ganz recht. Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können.«
Hanno Hath hielt es nicht für notwendig, dem Direktor
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