Der Windsänger
mir.«
»Ich habe noch nie darüber gesprochen. Niemals.«
Berater Kemba hielt es nicht länger hinter der Tür aus. Er war nicht sicher, ob es seine Pläne durchkreuzen würde, aber es konnte für den Kriegsherrn von Ombaraka ganz sicher nicht gut sein, wenn er weinte wie ein Baby. Also gab er sich bestürzt und platzte mitten in das persönliche Gespräch hinein.
»Mylord, was ist passiert? Was ist los?«
Raka der Neunte, Kriegsherr der Barakas, Oberhaupt von Ombaraka, Oberkommandant der Windkrieger und Herrscher der Ebene, blickte mit rot geränderten Augen und tränenüberströmtem Gesicht zu seinem Berater auf und sagte: »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.«
»Aber, Mylord…«
»Los, gehen Sie und spielen Sie mit Ihren Zöpfen! Raus!«
Also zog sich Berater Kemba zurück. Und kurze Zeit später erhielten die Steuermänner den Befehl, nach Norden zu segeln. Das riesige Schiff machte einen weiten Bogen und hielt auf die Berge zu.
Am nächsten Tag kletterte Kestrel bei Sonnenaufgang auf den höchsten Wachturm von Ombaraka und blickte auf die Ebene hinaus. Es war ein kühler, klarer Morgen und sie konnte kilometerweit sehen. Hinter der flachen Wüste stieg das Land allmählich an. Dort war ein großer Wald. Und dahinter – gar nicht mehr so weit entfernt – lagen die gewaltigen dunklen Berge.
Kestrel betrachtete das Land vor sich. Unter dem Sand der Ebene und zwischen den Bäumen des Waldes glaubte sie die Spuren einer lange verlassenen, breiten Straße zu erkennen, die geradewegs auf die Berge zuführte. Die Karte hatte sie vor sich ausgebreitet. Darauf war der Große Weg eingezeichnet und die Stelle, an der er von der Zickzacklinie des so genannten Riss-im-Land unterbrochen wurde. Am Ende der Straße, genau an dem Punkt, an dem der Große Weg auf denhöchsten Berg traf, standen die Zeichen, die der Übersetzung ihres Vater zufolge Ins Feuer bedeuteten.
Das dankbare Volk von Ombaraka bereitete seinen Helden einen würdevollen Abschied – nur Kemba war nirgendwo zu sehen. Raka umarmte die Kinder nacheinander, besonders innig Bowman.
»Wenn ihr je unsere Hilfe braucht«, versprach er, »braucht ihr uns nur darum zu bitten.«
Salimba trat vor und überreichte ihnen drei mit Reiseproviant gefüllte Umhängetaschen. »Ich wusste gleich, dass sie keine Spione sind«, verkündete er. »Hab ich ihm nicht die Haare geflochten?«
Dann wurden sie auf die Erde hinuntergelassen. Ganz Ombaraka versammelte sich, um als letzte Huldigung noch einmal den Siegesruf auszubringen, und die Kinder machten sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Gebirgsausläufern und dem großen Wald. Sie drehten sich noch einmal um, um ihren neuen Freunden zum Abschied zu winken. Einen Augenblick blieben sie stehen und schauten zu, wie die riesige Stadt auf Rädern ihre unzähligen Segel klarmachte und knarrend und rumpelnd über die Ebene davonfuhr. Eine Windbö zerrte an ihren Goldzöpfen und ließ sie frösteln. Die Luft war hier kalt und das Land vor ihnen dunkel.
17 Familie Hath wehrt sich
»Bo?«, wollte Pinpin wissen. »Kess?« »Sie sind auf dem Weg in die Berge«, erklärte Ira Hath. Sie hielt nichts davon, ihrer Tochter etwas vorzumachen, auch wenn sie erst zwei Jahre alt war. »Heb die Arme hoch.«
»Papa?«
»Er lernt für seine Prüfung. Bleib stehen, während ich dich anziehe. Ich bin gleich fertig.«
Sie schaute ihre Tochter prüfend an. Die Tagesdecke hatte nicht ausgereicht, um sie beide komplett damit einzukleiden. Also hatte sie für Pinpin nur eine lange Weste genäht, die sie ihr über das orangefarbene Kleid zog. Als sie sich selbst und Pinpin jetzt betrachtete, stellte sie zufrieden fest, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Mutter und Kind in gleichen Streifen wäre zu viel des Guten gewesen.
Sie nahm den großen Korb, den sie zuvor gepackt hatte, fasste Pinpin an der Hand und trat in den Flur hinaus. Die Tür der Mooths öffnete sich einen Spalt weit, als sie vorbeikamen, und ein spitzer Schrei ertönte.
»Oh! Seht mal, was sie jetzt gemacht hat!«
Drei schockierte Gesichter erschienen im Türspalt und beobachteten sie auf dem Weg zur Treppe.
Auf der Straße erregten die bunten Streifen sofort Aufsehen. Der Blockwächter, der zufällig vorbeikam, hob die Hand, blies in seine Trillerpfeife und rief: »Das können Sie nicht machen!«
Ein Mann, der einen Karren mit Fässern schob, drehte sich nach ihnen um. Da er nicht mehr auf den Weg achtete,
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