Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)
ihre Tasche ausgeräumt haben muss, als sie mit dem Kind spazieren war, die das Buch dorthin gelegt haben muss, wo ansonsten Pullover liegen, die Marias Kleidungsstücke berührt haben muss, die bis ins Innerste ihrer Tasche vorgedrungen sein muss. Maria ärgert sich, sie verflucht die Schwester, sie schlägt das Buch auf. Sie liest:
Fangen Sie sofort an, viel zu machen. Und denken Sie daran, dass zwischen Erfolg und Misserfolg die Konsequenz entscheidet, mit der Sie Dinge tun
.
Maria wirft das Buch in die Ecke, sie möchte schreien. Sie reißt der Grünlilie ein welkes Blatt ab. Die Grünlilie hört nicht auf, Ableger zu bilden, Maria hört nicht auf, Grünlilienableger in Wassergläsern wurzeln zu lassen und die Grünlilienableger in Erde zu pflanzen. Die Grünlilienableger bilden neue Ableger, aber Maria kann sie nicht in den Müll werfen. Irgendwann wird meine Wohnung von Grünlilien überwuchert sein, sagte Maria zu Martha und Angelika, wenn sie in der Boutique Grünlilienpflänzchen verteilte. Du brauchst eine Katze, sagte Martha dann. Nein, sagte Maria, ich möchte keine Katze, die würde meine Grünlilien fressen. Aber du möchtest doch weniger haben, sagte Martha, die Marias Grünlilienpflänzchen ihren Katzen verfütterte und jedes Mal fragte: Du düngst nicht, oder. Grünlilien sind gesund, sagte Angelika, man kann nie zu viele Grünlilien besitzen, sie filtern den Rauch aus der Luft. Ich rauche nicht, sagte Maria. Ich weiß, sagte Angelika, aber gesund sind sie trotzdem.
Maria schreit nicht, sie möchte die Nachbarn nicht auf sich aufmerksam machen. Sie überlegt, die Schwester anzurufen. Zu sagen, was denkst du von mir, denkst du, ich schaffe das alles nicht, denkst du, ich, denkst du. Maria atmet tief ein, sie zerreißt das Grünlilienblatt. Ich habe mich gut vorbereitet. Meine Stärken sind Belastbarkeit, Kommunikationsfähigkeit, Sorgfalt, Erfahrung. Meine Schwäche könnte sein, dass ich einen ausgeprägten Ordnungssinn habe. Das ist doch gut, ich habe mir das gut überlegt. Maria wirft das Buch in die Ecke und lässt es dort so lange liegen, bis sie ein schlechtes Gewissen bekommt, es aufhebt, zurück auf den Wohnzimmertisch legt.
26 Nachtbilder
Herzlich willkommen, sagt Herr Willert, er schüttelt meine Hand. Herzlich willkommen, ich freue mich, dass Sie wieder bei uns sind. Sein Bart ist gewachsen, er reicht bis zum Kinn. Sie sind weiß geworden, sage ich und schlage die Hände zusammen. Wir lachen, und Herr Willert sagt, schön, dass es Ihrem Mann besser geht. Walter steht hinter mir. Walter, sage ich, bist du wieder aufgestanden. Walter, sage ich, kämm dich doch, dein Haar ist ganz zerzaust. Die Toten haben keine Kämme, sagt Walter, warte hier, ich gehe und kaufe einen Taschenkamm. Herr Willert holt seine Geldbörse aus dem Sakko, er sagt: Das geht aufs Haus, Herr Beerenberger, Sie sind eingeladen. Walter lacht, und er hat den Blick, den er hat, wenn ihn etwas freut, er es aber nicht zeigen möchte. Walter sagt, das wäre nicht nötig, Herr Willert, vielen Dank. Wissen Sie, sagt Herr Willert, niemand verkauft so gut wie Ihre Frau, niemand geht mit den Kundinnen besser um, gute Arbeit muss man schätzen, es ist schwierig, so jemanden zu finden. Walter lacht, er küsst mich auf die Stirn, er dreht sich um, er geht. Ich sage, Walter, bleib doch, bitte bleib, du kannst dich auch nachher kämmen.
25 Hinter den Bergen
Das erste Mal ist immer ein großer Schritt, sagte Walter. Heute vor neun Jahren, denkt Maria, als sie in den Bus steigt, ich werde später zum Friedhof fahren. Ich werde eine Kerze kaufen, ein elektrisches Grablicht, das hält länger. Maria stempelt ihre Fahrkarte, sie hält nach einer freien Sitzplatzreihe Ausschau, aber alle sind besetzt. Maria nimmt neben einer alten Frau Platz. Ich muss gleich aussteigen, sagt die Frau, und Maria sagt, gut, ich lasse Sie bei der nächsten Haltestelle hinaus. Entschuldigen Sie, steigen Sie aus, fragt die Frau, als der Bus bei der nächsten Ampel hält. Nein, sagt Maria, aber ich lasse Sie hinaus, wenn es an der Zeit ist auszusteigen. Ich muss schon früh mit dem Aussteigen beginnen, sagt die Frau, wissen Sie, ich bin langsam. Nein, sagt Maria, das wusste ich nicht, aber wir fahren noch eine Weile, besser Sie sitzen, da können Sie nicht umfallen. Aus der Tasche der Frau riecht es nach Wurst und frisch gemahlenem Kaffee, an Vormittagen dominiert dieser Geruch die Busse des städtischen Verkehrsbetriebes, denn an Vormittagen transportieren die
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