Der Winterpalast
Einfädeln schwer, und die Knöpfe hielten nicht.
Man sagte mir, was ich zu tun hatte, aber darüber hinaus redete niemand mit mir. Die anderen Näherinnen arbeiteten flink und geschickt und plauderten dabei über den neuen Kronprinzen. Sie bedauerten den armen Jungen, der ohne Mutterliebe aufwachsen musste. Er sei klug und freundlich, hörte ich, habe ein gutes Namensgedächtnis und könne sich jede Melodie merken, die er einmal gehört habe. Er sei erst ein Jahr hier und spreche schon so gut russisch, dass er Befehle geben und verstehen könne, was die Leute sagten. Peter Fjodorowitsch passe so viel besser zu ihm als sein alter deutscher Name Karl Ulrich. Er mochte gerne Blini und Störsuppe, auch Kascha und Pilze aß er gern. Der Enkel Peters des Großen gedieh ganz prächtig, seit er hier war.
Jetzt, da Russland einen Thronerben hatte, würde es sicher viele Feste und Maskenbälle geben, meinten die Näherinnen. Sie würden alle Hände voll zu tun haben mit der Garderobe der Kaiserin.
Wenn ich einen Vormittag lang gearbeitet hatte, waren meine Füße gefühllos vor Kälte und meine Finger zerstochen. Zum Mit
tagessen bekam ich eine Scheibe Schwarzbrot mit etwas dünnem Tee.
»Ist das alles, was du geleistet hast?« Madame Kluge hob das Kleid, an dem ich gearbeitet hatte, hoch und schwenkte es wie eine Fahne. Spöttisches Kichern erhob sich im Raum.
Ich senkte den Kopf und weinte stumm. Madame Kluge hielt mir ein Messer hin und sah zu, wie ich die Knöpfe wieder abschnitt, die ich angenäht hatte. Das Abendessen sei gestrichen, sagte sie, ich verdiente keine ordentliche Mahlzeit, solange ich nicht gelernt hätte, ordentlich zu arbeiten.
Auf dem Weg zurück in den Schlafsaal sah ich durch ein Fenster, auf dem Eisblumen glitzerten, hinaus ins Freie. Ein von einem Maultier gezogener Karren mit einer Ladung Fleisch machte gerade einem prächtigen Schlitten Platz, der vor dem Palast vorfuhr. Ein junger Mann stieg aus und schritt eilig auf den Eingang zu. Ich überlegte, ob es vielleicht der Kronprinz war, aber es war niemand da, den ich hätte fragen können.
Ich dachte an Körbe voller Knöpfe, an endlose Reihen von großen Lederkoffern, in denen all die prächtigen Kleider der Kaiserin in ihren seidenen Hüllen lagen, Kleider, die ich nie auch nur anfassen durfte. Ich dachte an die Fältchen um Madame Kluges dünne Lippen, an ihre keifende Stimme, an den Tropfen eitriger Flüssigkeit, die sich in ihrem rechten Augenwinkel sammelte.
Ich legte mich in das schmale Bett. Mein Magen knurrte, ich drückte mit den Fingerspitzen auf meinen Bauch. Eine der Palastkatzen spazierte durch den Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Dann muss ich eingeschlafen sein, denn ich träumte: Ich aß dampfende Klöße von einem Teller, so groß wie der Mond.
Wenn die Kaiserin in der Nacht fror, so behaupteten die Näherinnen, ließ sie zwanzig Mann der Palastgarde in ihr Schlafzimmer kommen, die mit ihrem Atem die Luft wärmten.
Wenn sie einen Maskenball veranstaltete, mussten alle Frauen sich als Männer verkleiden, und die Männer trugen Reifröcke
und Damenschuhe mit hohen Absätzen. Und keine Einzige der Hofdamen tanzte so anmutig übers Parkett wie Ihre Hoheit auf ihren wohlgeformten Beinen.
Und die Näherinnen klatschten, während sie einfädelten oder Rüschen aus Satin und Spitze rafften, darüber, was aus dem hübschen Kadetten werden würde, der in einem Theaterstück bei Hof eine Schlange gespielt hatte. Die Kaiserin, so hieß es, hatte sich zweimal nach ihm erkundigt. Die Katzen, die bei ihr auf dem Bett schliefen, trugen Samtjäckchen und Hüte, sie speisten gebratene Hähnchenbrust und tranken Milch aus silbernen Schälchen.
Ich konzentrierte mich auf die Saumnaht, die man mir aufgetragen hatte, aber auch diese Arbeit missriet: Die Stiche waren zu lang, und ich musste alles wieder auftrennen. Der schwere Stoff rutschte von meinem Schoß auf den Boden und wurde staubig. Wieder ein Beweis dafür, wie ungeschickt ich war.
Und ich arbeitete zu langsam, viel zu langsam.
»Tu einfach, was man dir gesagt hat«, bekam ich zu hören, wenn ich mich zu verteidigen versuchte, »und spar dir deine frechen Ausreden.«
Das ist alles, was du hier zu erwarten hast, dachte ich verbittert. Nur nicht auffallen, duck dich, mach dich so klein, dass sie deine Gegenwart gar nicht bemerken. Sie wollen, dass du verschwindest, dass du zu einem Häufchen Staub zerfällst, das man zusammenfegt und spurlos beseitigt, ohne einen
Weitere Kostenlose Bücher