Der Winterpalast
was für Dinge kriegst du da zu hören?« Er berührte mit der Fingerspitze meinen Nacken und strich über das Kettchen mit dem Anhänger, das meine Mutter mir geschenkt hatte. »Erzähl es mir.«
»Chevalier Duval stellt den Stallburschen nach«, sagte ich kühn.
»So, tut er das? Woher weißt du das?«
»Anton sagt es.«
»Wer ist Anton?«
»Der Kammerdiener von Großfürst Peter. So ein Großer mit schiefen Zähnen. Er ist hinter der Meisterin der Nähstube her und versucht immer, sie zu küssen, aber sie will nichts von ihm wissen. Sie hält ihn für einen Tunichtgut.«
Mein Herz pochte. Das Buch rutschte von meinen Knien und fiel auf den Boden, aber ich hob es nicht auf.
»Der sächsische Gesandte hat eine Krankheit, irgendwas Fran
zösisches«, fuhr ich fort. »Seine Ärzte haben ihm Quecksilber dagegen verschrieben.«
»Aha. Aber jetzt sag mir: Hörst du die Leute auch über die Kaiserin reden?«
»Ja, manchmal.«
»Und was wird geredet?«
»Madame Kluge meint, die Kaiserin sollte nicht vergessen, dass Graf Rasumowski sie liebt. Ich glaube, Madame ist selbst in ihn verliebt. Sie wird jedes Mal rot, wenn jemand seinen Namen ausspricht. Und ich habe sie einmal dabei ertappt, wie sie an einer Tür lauschte, um ihn singen zu hören.«
»Madame Kluge? Diese dicke Deutsche, die sich immer so wichtig macht?«, fragte der Kanzler.
»Ja. Sie kneift andauernd ihre Lippen, damit sie voller aussehen, und stopft sich den Busen aus.«
Er lachte aus vollem Hals. Ganz offensichtlich amüsierte er sich köstlich.
So einfach und leicht sehen die Schritte aus, die uns in ein völlig neues Leben führen. Ich wusste damals nichts von den Lebensgewohnheiten der Kaiserin, vom steten Wechsel der Schlafzimmer, von den Liebhabern, die sehnsüchtig darauf warteten, um Mitternacht zu ihr gerufen zu werden. Es war einfach nur Glück, dass es den Kanzler in jene abgelegene Gegend des Palasts verschlug, Glück, dass er mit einer tollpatschigen kleinen Näherin ins Gespräch kam, ein Glück, das mich in die unmittelbare Umgebung der Kaiserin beförderte.
Es gab noch mehr solche Nächte in den folgenden Monaten. Nächte voller hellwacher Hoffnung, voller Gelächter und Geständnisse, die mir, dankbar, wie ich war für seine Aufmerksamkeit, leicht von der Zunge gingen.
Madame Kluge hatte in einer Schublade ein Fläschchen stehen, angeblich Eau de Cologne, aber ich sah sie und eine andere Kammerfrau daraus trinken, und das nicht zu knapp.
Anton, der Kammerdiener des Großfürsten, sagte, er würde dem Mohren am liebsten den Schädel einschlagen.
Unter dem Bett der Gräfin Golowina musste nachts immer eine junge Leibeigene liegen, die ihrer Herrin Geschichten erzählte, wenn diese nicht schlafen konnte.
Es war nicht schwer herauszufinden, welche Art von Geschichten der Kanzler besonders gerne hörte.
»Kann eine kleine Näherin ein Geheimnis bei sich behalten?«, fragte er mich einmal.
»Ja«, sagte ich.
»Der Palast besteht nicht allein aus der kaiserlichen Kleiderkammer.«
Ich nickte.
»Und es gibt wichtigere Geschichten. Man muss nur wissen, wo man suchen muss.«
Der Reichskanzler legte seine Hand auf meine.
Ich senkte den Blick, starrte auf die silbernen Schnallen seiner Schuhe. Sie waren eckig und mit Edelsteinen verziert.
Ich spitzte die Ohren.
Er redete von gottlosen Leuten, die Pläne gegen unsere Kaiserin schmiedeten, die nicht zögern würden, ihre Hände gegen sie zu erheben. Sie waren schlau und listig, sie verstanden es, sich zu verstellen, ihre Gedanken hinter heuchlerischen Freundschafts- und Treuebekundungen zu verbergen.
Sie waren überall, aber sie blieben in Deckung. Die Kaiserin musste wissen, wer ihre Feinde waren und was sie im Schild führten.
Seine Stimme klang ernst. Er ließ mich nicht aus den Augen, während er redete.
Die Gerechten mussten belohnt, die Bösen bestraft werden. Man musste die Spreu vom Weizen trennen. Mein Vater hatte einen Grund gehabt, als er mich damals mitnahm: Er hatte seiner Kaiserin vertraut. Seine Tochter konnte ihr nützlicher werden, als er jemals für möglich gehalten hatte – sie konnte für sie sehen und hören.
Sie konnte ihr Spitzel sein.
Ihre Informantin.
Die Zunge , die ihr alles Wichtige zutrug.
»Jemand, dem die Kaiserin vertrauen kann, Warwara«, sagte der Kanzler. »Und jemand, dem auch ich vertrauen kann.«
Ich war sechzehn Jahre alt. Wie alle Machtlosen glaubte auch ich, dass die Herrschenden anders handeln würden, wenn sie nur die
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