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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Gedanken darauf zu verschwenden.
    Wenn du erst einmal im Winterpalast bist, ist nichts mehr unmöglich. Jetzt quälten mich diese Worte meiner Mutter. Das Streben nach etwas Höherem und Besserem war kein eitler Luxus, es war das Einzige, was mich davor bewahrte, unsichtbar zu werden.
     
    Jeden Morgen kleidete die Kammerfrau eine Anzahl hölzerner Puppen ähnlich denen an, die Kaufleute benutzen, um Textilien in ihren Fenstern auszustellen, und brachte sie ins Schlafzimmer der Kaiserin. Anhand dieser Modelle entschied dann Elisabeth,
was sie an diesem Tag oder auch zu einem festlichen Anlass am Abend tragen wollte.
    Ich dachte an die ehrgeizigen Hoffnungen meiner Mutter. Ich dachte an das, was die Kaiserin meinem Vater versprochen hatte.
    Ich nahm allen Mut zusammen und bat Madame Kluge, die Zarin an meine Existenz zu erinnern, wenn sie ihr am Morgen die Puppen vorführte. Ich könnte ihr auf Französisch und auf Deutsch vorlesen, ich hatte eine angenehme und klare Stimme. Ich konnte auch singen. Ich war ungeschickt beim Nähen, aber ich hatte eine schöne, saubere Handschrift. Könnte sie nicht die Kaiserin bitten, mich in ihren Dienst zu nehmen?
    Madame Kluge ließ mich gar nicht erst ausreden. Ich sah, wie sie ausholte, und dann spürte ich den Schmerz, als ihre Hand meine Wange traf.
    »Du bist ein Nichts , Mädchen, und ein Nichts wirst du immer bleiben.«
    Ich wartete nicht, dass sie noch einmal zuschlug, sondern wich zurück, setzte mich wieder an meinen Platz und arbeitete weiter. Mein Gesicht brannte, und dann stach ich mir auch noch in den Finger.
    Hinter mir hörte ich die anderen Mädchen murren. Als ob die Kaiserin besonderen Wert auf Lesen und Schreiben legte! Und selbst wenn, dann würde sie bestimmt nicht die Dienste einer dahergelaufenen Polin in Anspruch nehmen.
    Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenkrampfte. Ich war intelligenter als Madame Kluge und alle diese Mädchen, die jetzt über mich lachten. Ich stellte mir vor, dass die Kaiserin hereinkäme und mich über ihr Kleid gebeugt sähe. So schön wie an dem Tag, als ich ihr gegenüberstand, duftend nach Orangenblüten, eine Feder im gepuderten Haar.
    »Was machst du hier, Warwara Nikolajewna?«, würde sie fragen. »Wieso hat dich niemand zu mir gebracht? Welche Idiotin hat dich in diese Nähstube gesteckt?«
    Im Geist sah ich, wie Madame Kluge sich wand, wie sie Ent
schuldigungen stammelte und um Vergebung bat und wie die Kaiserin ihr barsch das Wort abschnitt. »Sie ist mein Mündel, und ich werde für sie sorgen, wie ich es ihrem Vater versprochen habe.«
    Madame Kluge würde leichenblass den Blick senken, und dann würde ihr Schildkrötengesicht rot anlaufen vor Schreck, wenn die Kaiserin ihr befahl, ihr aus den Augen zu gehen.
    Mein eigenes Schicksal würde sich wenden. Ich würde seidene Kleider mit weiten Ärmeln tragen, die meine schlanken Hände betonten. Ich würde in der Kammer direkt neben dem kaiserlichen Schlafgemach schlafen. Nie wieder würde mich jemand wie Luft behandeln.
     
    Wochen vergingen, und ich war mehr denn je ein Fremdkörper in meiner Umgebung. Meine zerstochenen Finger heilten nie, die Schultern taten mir weh von der gebeugten Haltung. Andere Näherinnen wurden für ihre Arbeit gelobt, von meinen Anstrengungen nahm nie jemand Notiz. Jedes Mal, wenn Madame Kluge mich sah, lächelte sie nur höhnisch.
    Ich bekam jeden Tag einen Napf voll Kascha mit etwas dünner Soße, sodass ich keinen Hunger litt, und ich hatte ein Dach über dem Kopf, aber das tröstete mich nicht. Ich war eine Waise, fremden Leuten ausgeliefert, die mich von der Kaiserin fernhielten. Wenn ich nur eine Möglichkeit fände, so dachte ich, mit ihr zu sprechen, sie daran zu erinnern, wer ich war und was sie meinem Vater versprochen hatte, so würde alles gut werden.
    Eines Tages im April schrieb ich mit dem Mut der Verzweiflung einen Brief an die Kaiserin. Ich machte ihn mit einer Stecknadel an einem Ballkleid einer der Kleiderpuppen fest und deckte einen Schal darüber. In dem Schreiben erwähnte ich das Gebetbuch, das mein Vater für Ihre kaiserliche Hoheit restauriert hatte, und erinnerte sie an ihr Versprechen, sich um mich zu kümmern. Ich denke Tag und Nacht an den Tag, als Eure Majestät mein Gesicht berührte , schrieb ich.
    Als Madame Kluge zurückkam, hielt sie tückisch grinsend das
Blatt Papier in der Hand. Sie zwang mich, den Brief unter dem höhnischen Gelächter der anderen Mädchen vorzulesen. Am meisten amüsierte sie die Passage

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