Der Winterpalast
Wahrheit erkennen würden, die man vor ihnen verbarg. Ich glaubte an die immer gleiche Botschaft all der rührenden Geschichten, in denen Könige und Königinnen, Sultane und Kaiser von Grund auf geläutert sind, nachdem sie die Freuden und Sorgen des gemeinen Mannes mit eigenen Augen gesehen haben.
»Schau mich an, Warwara«, sagte der Kanzler. Seine Hand, die auf meiner lag, war schwer, aber warm und weich.
Ich blickte auf in sein glattrasiertes Gesicht mit den Fältchen um die Mundwinkel.
Er habe mich lange genug beobachtet, sagte er. Ich sei sehr sprachbegabt. Mein Russisch sei tadellos. Er habe mich auch deutsch und französisch sprechen hören, und ich könne Polnisch.
»Möchtest du das lernen, was ich dir beibringen will?«
Ich beugte mich etwas vor, so nahe, dass ich mein blasses Gesicht winzig klein in seinen Augen gespiegelt sehen konnte.
Ich nickte.
Ein Hochgefühl ging in mir auf wie der süße Hefeteig meiner Mutter. Ich dachte, es wäre leicht, ein Kinderspiel. Ich musste ja nur seine Schülerin werden, und mein Leben würde sich zum Besseren wenden.
Ich wusste noch nicht, wie gefährlich Geschichten sein konnten – dass der Chevalier Duval bereits jetzt für die Freuden, die er mit irgendwelchen Stallburschen genossen hatte, bezahlte, indem er Geheimnisse des Königs von Frankreich preisgab, und dass Anton schon bald zum Verhör vorgeladen und aus dem Dienst des Großfürsten entlassen werden würde –, aber selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte mich das nicht davon abgehalten, Dinge aus
zuplaudern, um derentwillen der Reichskanzler sich für mich interessierte.
Es hätte mich damals nicht davon abgehalten.
Noch nicht.
Die weißen Nächte waren kaum zu Ende, da begann mein Unterricht beim Kanzler.
Die erste Lektion war kurz.
Wir befanden uns in einem der schmalen Korridore, die nur vom Personal benutzt wurden. Er zeigte auf ein Guckloch in der Wand.
»Du bleibst hier und beobachtest, was in dem Zimmer auf der anderen Seite der Wand passiert«, sagte er. »Wenn ich wiederkomme, erzählst du mir, was du gesehen hast.«
Er ließ mich allein, ich spähte durch das Loch. Im schummrigen Licht einer Kerze sah ich eine Frau an ihrem Sekretär sitzen und lesen. Ich konnte weder an ihrer Erscheinung noch an ihrer Tätigkeit irgendetwas Bemerkenswertes entdecken und fand die Sache nach einer Weile nur noch öde, aber ich blieb auf meinem Posten. Eine Stunde verging, dann legte die Frau das Buch beiseite, gähnte, blies die Kerze aus und verließ das Zimmer.
Ich überlegte, ob ich ihr folgen sollte, aber ich wusste nicht, wie ich aus dem Gang herauskommen konnte, und so ließ ich es sein. Es war noch Sommer, und die Luft in dem Korridor war stickig. Meine Kehle brannte von dem Staub, den ich einatmete, ich fühlte, wie der Schweiß mir über den Rücken rann. Immer wieder kniff ich mir in den Arm, um mich wach zu halten.
Als der Kanzler wiederkam, um mich abzuholen, stellte er mir eine Menge Fragen. Trug die Frau ein Schönheitspflästerchen und, wenn ja, an welcher Stelle des Gesichts? Spielte sie beim Lesen mit ihrem Armband? Oder vielleicht mit ihrer Chatelaine? Wie viele Knöpfe waren auf ihrem Ärmel? Wie oft blätterte sie um?
So viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte! Ich wurde immer verzagter, Tränen stiegen mir in die Augen. Nichts würde
sich ändern, ich war unbrauchbar, unfähig. Ich machte mich auf ein vernichtendes Urteil gefasst.
Aber der Kanzler fasste meinen Ärmel und zog ihn hoch: Dort, wo ich mich in den Arm gekniffen hatte, waren noch die Spuren meiner Fingernägel sichtbar.
»Ungeduld ist der einzige Fehler, den du dir nicht leisten kannst«, sagte er lächelnd. »Geduld musst du haben, alles Übrige kann ich dir beibringen.«
Dieser ersten Lektion folgten viele andere. Bald hatte ich gelernt, wie man Schlösser mit einer Haarnadel öffnet, wie man an der Maserung des Holzes erkennt, wo Geheimfächer in einem Möbelstück eingebaut sind, wie man verborgene Taschen in Gürtel und Kleidersäcke einnähen, Schriftstücke in Uhrgehäusen oder im Innenfutter von Schuhen verstecken kann, in Kaminen, in Heizungsschächten, unter Fensterbrettern, in Kissen oder im Einband von Büchern.
Ich lernte, wie man jemanden beschattet, ohne bemerkt zu werden, wie man ein echtes Lächeln von einem unterscheidet, das nur eine Maske des Verrats ist, ich lernte Verstecke unter losen Bodendielen oder unter Kopfkissen zu verachten, wo jeder noch so unbegabte Dieb seine
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