Der Winterpalast
Tempel der Wissenschaften.« Und dann erinnerte ich mich wieder daran, dass unsere Dienstmädchen das Museum für einen verfluchten Ort gehalten hatten, wo Unheil lauerte. Hatten sie recht gehabt, wenn sie für die Worte meines Vaters nur Hohn und Spott übrig hatten?
Ich schob diese Gedanken weg. Ich schwor mir, nicht zu weinen.
Das erste Objekt der Sammlung, zu dem Professor Staehlin den Großfürsten führte, war ein Haufen Schädel und Knochen unter einer Glaskuppel. Zwei Skelette von Kleinkindern, gestützt von Eisenstangen, sahen aus, als wollten sie diesen Hügel gerade erklimmen. Neben ihnen stand ein weiteres Skelett mit einer Geige unterm Kinn und setzte gerade den Bogen an. Eine Girlande aus verdorrten Arterien, Nieren und Herzen schmückte ein Schild, das darüber hing und die kunstvoll verschnörkelte Inschrift trug: Warum sollte ich mich nach den Dingen dieser Welt sehnen?
»Anatomische Kunst«, so nannte Professor Staehlin das Arrangement. »Aber warum sollen wir an den Tod denken, wenn wir noch in der Blüte unserer Jahre sind?«, fragte er seinen Schüler.
Der Großfürst rieb sich grinsend die Hände: Er wusste die Antwort – ich hatte sie ihm einige Tage vorher vorgelesen.
Um uns bewusst zu machen, dass das Leben kurz ist. Um uns daran zu erinnern, dass wir nach unserem Tod Rechenschaft über unsere Taten ablegen müssen.
Professor Staehlin nickte lächelnd.
Die Missbildungen waren im nächsten Saal ausgestellt, leblose Wesen mit bleicher, ledriger Haut, die in Glaszylindern schwammen, ernste Gesichter in klarer Flüssigkeit schwebend. Zwei Köp
fe zu einem einzigen verschmolzen, ein Gesicht ohne Augen, zu einem Nixenschwanz zusammengewachsene Beine. Fötusse mit zu Stumpen verkümmerten Armen, Babys mit zwei Gesichtern.
Die Toten starren die Lebenden an , hörte ich die Dienstmädchen bei uns zu Hause flüstern.
Ich zog den Schal enger um meine Schultern. Der Großfürst neben mir trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Das sind deformierte Föten von Menschen und Tieren. Ihr Großvater hat sie sammeln und aus ganz Russland hierherbringen lassen«, erklärte Professor Staehlin. »Sehen Sie genau hin, Hoheit. Fragen Sie sich: Warum? «
Der Großfürst starrte auf das Glas mit den ungleichen Zwillingen: Der eine, ein winzig kleines Bündel verschrumpelter Haut, klammerte sich wie ein Frosch an den Rücken seines aufgedunsenen Bruders.
Der Thronfolger schwieg.
Professor Staehlin beantwortete seine Frage selbst. Peter der Große habe gewollt, dass seine Untertanen etwas daraus lernten: Missgeburten sind keine Ungeheuer, sondern einfach nur in ihrer Entwicklung geschädigte Föten. »Opfer von Krankheit und Laster«, sagte er. »Und auch die Angst der Mutter kann Missbildungen verursachen.« Er zeigte auf eine Inschrift an der Wand: Denn die Furcht, die eine Schwangere empfindet, kann auf das Leben einwirken, das sie in ihrem Leib trägt.
»Lesen Sie vor, was da steht, Hoheit«, sagte er.
Der Großfürst wandte den Blick von dem Glasbehälter ab. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber es kam kein Ton heraus. Und dann hörte ich ihn gellend aufschreien, ein unheilverkündender Schrei voller Entsetzen, gefolgt von dem Geräusch seiner Schritte, die sich eilig entfernten.
Ich sah den Professor an. Er blinzelte hektisch, ganz verstört von der Wirkung seiner Worte.
»Stehen Sie nicht herum wie angewurzelt, Warwara. Gehen Sie ihm nach«, befahl er.
Ich gehorchte. Der Großfürst saß zusammengekauert und zitternd auf der untersten Stufe der Treppe. Er schlug die Hände vors Gesicht, als er mich kommen sah. »Hier werden sie mich umbringen«, schluchzte er, »ich weiß es.«
Ich wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, aber er schüttelte sie ab.
»Es hat Vorzeichen gegeben«, wimmerte er. »So wie schon bei Mamas Tod. Sie verschweigen es mir, aber ich weiß Bescheid.« Durch seine Finger tropfte Erbrochenes.
Er erinnerte mich an einen jungen Vogel, der hilflos mit den Flügeln schlägt, wie gelähmt vor Angst.
»Holen Sie einen Diener, Warwara, schnell«, befahl Professor Staehlins Stimme. Ich hatte ihn nicht kommen hören.
Er half dem Großfürsten auf. »Sie haben die Missbildungen gesehen, Hoheit. Sie haben gesehen, was Furcht anrichten kann. Sie dürfen nicht zulassen, dass sie Ihr Denken beherrscht. Wir können die Zukunft nicht vorhersehen«, hörte ich ihn sagen, während ich hinaushastete. »Aber wir können uns mit Hilfe der Vernunft auf das
Weitere Kostenlose Bücher