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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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vorbereiten, was vielleicht geschehen wird.«
     
    In der Stille, die den Rest dieses Tages einhüllte, bewegte ich seine Worte in meinem Kopf, musterte sie von allen Seiten, suchte nach Spuren von Zweifel, so, wie mein Vater das Leder prüfte, das er für einen Einband verwenden wollte.
    Wir können die Zukunft nicht vorherwissen.
    Die Vernunft kann die Angst besiegen.
    Aber in der Nacht, als ich allein in meinem Bett lag, konnte ich meine Ohren nicht vor dem halb erstickten Weinen des Großfürsten verschließen, das aus dem Zimmer nebenan herüberdrang.
    Hundertmal war ich nahe dran, aufzustehen und zu ihm zu gehen, aber immer fand ich Vorwände, es doch nicht zu tun. Er würde mich nur fortschicken. Bestimmt hörte es bald auf. Der künftige Zar musste eben seine Lektionen lernen wie jeder andere auch.
    Schmerzhafte Lektionen.
    Aber es geht nicht anders.
    Irgendwann hörte das Schluchzen auf, und auch ich fiel in den Schlaf. In meinen Träumen bedrängten mich die Missgeburten aus der Kunstkamera. Schau hin , sagten sie. Schau dir die Schwimmhäute zwischen unseren Fingern an, unsere zusammengewachsenen Beine, unsere zugekniffenen Augen.
    Wieso siehst du nicht hin?
    Hast du Angst, du könntest zuviel sehen?
     
    Die Leute glauben, sie könnten sich hinter ihren Gesichtern verstecken, sie könnten sie beliebig formen wie Masken für einen Ball. Sie hoffen, ihr eilfertiges Lächeln oder ihr stolzer Blick verriete nicht die Gedanken und Gefühle, die sie lieber für sich behalten wollen. Den nagenden Neid des Höflings. Die Geringschätzung einer Dame. Die verzehrende Sehnsucht eines Kindes.
    Ich war nicht die einzige Spionin der Kaiserin, aber ich konnte ihr Gesicht besser lesen als andere. Ihre Pupillen wurden weit, wenn der kühne Blick eines Mannes ihr gefiel. Ein leichtes Stirnrunzeln zeigte an, dass sie dabei war, die Geduld zu verlieren. Eine schwungvolle Armbewegung signalisierte Interesse. Wenn es schwand, begannen ihre Finger mit dem nächstbesten Gegenstand zu spielen.
    Die Sünden der anderen ergaben die besten Geschichten. Die Tiefen des Palasts waren so dunkel und geheimnisvoll wie die Wasser der Newa. Die Dinge dort waren immer in Bewegung, immer wieder wurde etwas ans Ufer gespült. Die Geheimnisse, die so ans Tageslicht gelangten, glichen Wasserleichen, verbogenen Münzen, abgeschliffenen Glasscherben voller Schlamm – ebenso nutzlos für diejenigen, die nicht wussten, woher dieses Strandgut kam, wie kostbar für die Eingeweihten. Ich musste nur beobachten und mir alles merken, was ich sah. Ich musste nur denen zuhören, die glaubten, sie wären allein.
    Prinzessin Golubewa hielt ihren leibeigenen Friseur in einem Käfig in der Dienstbotenkammer neben ihrem Schlafzimmer ge
fangen, damit er niemandem erzählen konnte, dass sie kahlköpfig war. In einem verschlossenen Schränkchen in der Bibliothek von Graf Scherementew befanden sich Bücher mit Titeln wie Venus im Kloster oder Die Nonne im Hemd. Er besaß auch Bilder, die sich verwandelten, wenn man einen im Rahmen versteckten Hebel betätigte: Dann wurden etwa nackte Schäfer und Schäferinnen sichtbar, die auf einer Wiese neckische Spiele trieben, oder eine streng dreinblickende Hofdame hob ihre Röcke und enthüllte ein Hündchen, das die Stelle zwischen ihren Beinen leckte.
    Es dauerte nicht lange, bis ich die Lieblingsspionin der Kaiserin wurde.
     
    In einer Nacht schien die Kaiserin mit ihren Gedanken ganz bei dem Armband an ihrem Handgelenk zu sein, wie bezaubert vom Schimmern des Goldes im Kerzenlicht, vom leisen Klicken der Edelsteinanhänger.
    »Da ist etwas, das Eure Majestät wissen sollte«, begann ich. »Es betrifft Madame Kluge.«
    »Madame Kluge?«, fragte die Kaiserin träge. »Was ist mit ihr?«
    »Sie hatte Besuch von einer alten Baba .«
    Die Kaiserin beachtete das Armband nicht mehr. Stumm hörte sie an, was ich zu erzählen hatte: von der Alten, deren zahnloser Mund Beschwörungen murmelte, von einer Kerze, die flackerte und qualmte, obwohl kein Luftzug im Raum zu bemerken war.
    Wie leicht und flink mir die Worte von den Lippen gingen!
    Geld wechselte den Besitzer. Geld für einen Zauber. Einen unsagbar scheußlichen Zauber. Nehmen Sie diese Flasche … Gießen Sie Ihren Urin hinein … Bestreichen Sie damit die vier Füße des Betts Ihrer Herrin, dann wird sie Ihnen wieder gnädig werden.
    Haare, abgeschnittene Fingernägel, Hautschuppen mussten gesammelt und zusammen mit zauberkräftigen Kräutern und anderen magischen

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