Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
Schuldgefühl ankämpft: Erinnerungen an ein harsches Wort, an ein böse verkniffenes Gesicht, an einen Hieb mit der Rute. Wie wohltuend der Gedanke ist, dass nur die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt, dass nur eine verdiente Strafe vollzogen wird. Wie eilfertig man diejenigen verachtet, die in Ungnade gefallen sind.
    »Niemand wird unter meiner Regierung hingerichtet werden«, hatte die Kaiserin an dem Tag ihres Staatsstreichs vor zwei Jahren gelobt. Madame Kluge würde am Leben bleiben, sagte ich mir und wusste doch nur allzu gut, dass es Dinge gab, die nicht weniger schrecklich sein konnten als der Tod. Unter den Hieben der Knute verwandelt sich die Haut in blutige Fetzen. Muskeln und Sehnen reißen, Knochen brechen. Es braucht nicht viel, um eine Frau zum Krüppel zu machen.
    Jemand hinter mir lachte hämisch. Ich hörte Madame Kluge kreischen. Bevor ich die Augen abwenden konnte, sah ich ihren Körper schlaff zusammensinken.
    Die Kaiserin nickte wieder. Der Soldat mit der Knute holte aus und der erste Hieb knallte in der Stille. Neun weitere folgten, dann wurde das Urteil verkündet – Entlassung aus dem Dienst und Verbannung.
    Von diesem Tag an durfte Madame Kluges Name im Winterpalast nicht mehr erwähnt werden.
    »Das ist das Spiel, auf das sich jeder hier am Hof einlässt. Man gewinnt oder man verliert«, sagte der Kanzler an diesem Abend und streichelte meinen Busen. »Das kann dir auch passieren, dass du dich von einem Tag zum nächsten dort wiederfindest, wo du hergekommen bist.«
    Die Narbe auf seiner Brust, bemerkte er schmunzelnd, verdanke er der Hand eines Sterbenden. Er wusste nicht einmal mehr, wie der Mann geheißen hatte.
    »Halt die Augen offen, Warwara, in jeder dunklen Ecke lauert Gefahr. Wenn du einen Moment lang nicht aufpasst, bist du verloren, und jemand anderes tritt an deine Stelle.«
    Ich redete mir ein, dass ich keine Wahl hatte.
     
    In den entlegenen Räumen des alten Winterpalasts, schummrigen, mit Eichenholz getäfelten Kammern, die immer noch etwas von der riesenhaften Gegenwart Peters des Großen in sich bewahrten, wurden ständig Betten für die Kaiserin bereitgehalten. Sie verbrachte nie zwei Nächte hintereinander im selben Zimmer – niemand sollte wissen, wo die Herrscherin des russischen Reichs schlief.
    Auch sie hatte Angst vor dem Dolch eines Mörders.
    Ich kannte damals bereits viele ihrer Geheimnisse. Ich hatte sie in Tränen aufgelöst gesehen und krank vor Begierde. Ich hatte ihre zerfetzten Kleider auf dem Boden liegen sehen, die sie sich vom Leib gerissen hatte, weil sie zu betrunken gewesen war, um sich auszuziehen. In den Monaten, die seit meinem ersten nächtlichen Besuch bei ihr vergangen waren, hatte ich ihr viele Geschichten von Torheit und Stolz, von ehrgeizigen Hoffnungen und hinterlistiger Falschheit gebracht.
    Wie sehr sie mir vertraute, ersieht man aus der Tatsache, dass sie mir von dem Brief erzählte, den ihr Sekretär an den Fürsten von Anhalt-Zerbst geschickt hatte.
    In dem Schreiben wurden keine Versprechungen gemacht, es übermittelte dem Fürsten lediglich den Wunsch Ihrer Majestät, seine Tochter bei sich zu haben. Die Kaiserin rechnete fest damit, dass die Prinzessin vor dem 10. Februar, rechtzeitig zum sechzehnten Geburtstag des Großfürsten, eintreffen werde.
    »Wir werden zu der Zeit alle in Moskau sein«, sagte sie heiter. Die Aussicht auf die bevorstehende Reise stimmte sie froh – sie vertrug es nicht, lange Zeit am selben Ort zu sein. Sie hatte dann immer das Gefühl, anderswo scheine die Sonne heller und der Nachthimmel sei klarer. Und ihr war auch nicht wohl bei dem Gedanken, dass eine ihrer Residenzen zu lange alleine der Dienerschaft überlassen war. Dann blätterte die Farbe von den Wänden, die Vorhänge verschossen, Teppiche wurden fadenscheinig.
    Das Auge des Herrn macht die Kühe fett.
    In dieser Nacht las ich keine Berichte vor, vielmehr musste ich eine Liste von Fragen an den Haushofmeister schreiben. Waren die Möbel, die die Kaiserin nach Moskau hatte vorausschicken lassen, am Bestimmungsort angekommen? Hatte man dort irgendwelche Schäden durch Feuchtigkeit oder Mäuse festgestellt? Hatte man den Steinmetz bestellt, der den Zustand der Statuen überprüfen und die nötigen Reparaturen vornehmen sollte? Auch fern von der Hauptstadt sollte fremden Besuchern kein Anlass gegeben werden, den Glanz des russischen Hofs in Zweifel zu ziehen.
    »Der große Ballsaal von Schloss Annenhof ist genau der richtige Rahmen für den ersten

Weitere Kostenlose Bücher