Der Winterpalast
entdeckte ich einen Stapel schlicht gebundener Bücher. Ich schlug einige davon auf; es waren Abenteuergeschichten von Piraten, Schiffbrüchen und Entführungen.
Ich sah mich um: Ein abgewetzter Sessel, ein trüber Spiegel, ein glänzend lackiertes Nähkästchen, auf dessen Deckel ein prächtiger Feuervogel prangte, über der Lehne eines Stuhls am Fenster ein wollenes Umschlagtuch, an der Wand ein Bärenfell, darüber zwei gekreuzte Säbel. Vom Korridor klangen das Klappern von Töpfen, das Tappen von Schritten, und es kam ein Geruch von Seifenlauge herein.
Ich musste an unser Haus auf der Wasiljewskiinsel denken, hörte Papas gemessene Schritte, Mamas helle, heitere Stimme. Die
Erinnerung war so lebhaft, dass ich das Gefühl hatte, sie stünde direkt vor mir, um mich in die Arme zu schließen.
Abrupt ging die Tür auf. Die Bewohner dieses Hauses hatten wohl nur selten das Vergnügen, Besuch zu empfangen.
»Ach, du bist es.« Die Fürstin bemühte sich nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte ich.
Katharina kam herein, das Haar in aller Eile zurechtgemacht und halb unter einer Spitzenhaube verborgen. Sie trat lächelnd auf mich zu, aber ihre Mutter streckte den Arm aus und hielt sie auf. Sie fand wohl, ich war nicht vornehm genug für sie. Und nicht einmal nützlich.
»Hat sich der Zustand des Großfürsten irgendwie verändert?«, fragte die Fürstin.
Ich berichtete, was in dem neuesten Bulletin stand: Man hatte den Patienten noch einmal zur Ader gelassen, aber das Fieber war nicht zurückgegangen. »Alles liegt in Gottes Hand«, sagte ich.
Katharina ließ den Kopf hängen.
»In Gottes Hand«, wiederholte die Fürstin.
Das Mädchen brachte Kuchen und Tee, dazu ein Schälchen mit Pflaumenmarmelade.
Ich fühlte mich unbehaglich. Fürstin Johanna erklärte weitschweifig ihre Beziehungen zum Haus Braunschweig, während Katharina mich andauernd mit einladenden Gesten aufforderte, doch noch eine Tasse Tee oder ein Stückchen Kuchen zu nehmen. Mir fiel auf, dass ihre Fingernägel abgekaut waren.
»Machen Sie Fortschritte mit Ihrem Russisch, Hoheit?«, fragte ich.
»Kaum«, antwortete sie. »Ich habe zu wenig Gelegenheit, mich zu üben.«
»Unsinn«, fauchte die Mutter ärgerlich. »Meine Tochter macht große Fortschritte.«
Ich ging nicht darauf ein, sondern plauderte in ganz unbefangenem Ton weiter: »Der Ehrwürdige Vater Semjon betet jeden Tag
für Ihre Hoheit.« So berichtete ich der Reihe nach von verschiedenen Bekannten am Hof, die sich freundlich nach Katharinas Gesundheit und ihrem Befinden erkundigt hatten. Es waren nicht sehr viele, aber es freute sie, von ihnen zu hören; sie blühte sichtlich auf.
Fürstin Johanna verlor die Geduld. Sie stand auf.
Ich erhob mich ebenfalls und verabschiedete mich.
»Darf Warwara Nikolajewna morgen wiederkommen?« Katharina sah ihre Mutter bittend an.
»Wenn du willst, Sophie«, sagte die Fürstin. Sie streifte mich mit einem gleichgültigen Blick. »So wie die Dinge stehen, wird es zumindest nicht schaden.«
Ich war schon unten im Flur, als ich eilige Schritte hinter mir hörte, und im nächsten Moment spürte ich Katharinas Arme, die sich um meine Taille schlangen.
Ich fuhr zusammen. »Hoheit!«
»Bitte, nehmen Sie es sich nicht zu Herzen, dass Maman Sie so behandelt.« Sie sah mir in die Augen, vollkommen verängstigt. »Bitte.«
Ich fühlte, wie ihr zarter Körper zitterte. Ich hörte ein unterdrücktes Schluchzen.
»Kommst du wieder? Bitte.«
»Euer Hoheit –«, begann ich.
Sie unterbrach mich: »Nenn mich einfach Katharina.«
»Ja«, sagte ich, »ich komme wieder.«
In den folgenden Wochen fertigte ich jeden Morgen ausführliche Zusammenfassungen von Zeitungsartikeln, die Professor Staehlin ausgewählt hatte, an, um sie dem Großfürsten vorzulesen, wenn er wieder in den Winterpalast zurückkehrte. Mitte Januar hatte sich schon ein ganzer Stapel solcher Exzerpte angesammelt, alle ungelesen, und mir blieb nichts anderes übrig, als sie, nach Themen geordnet, zu archivieren. Alles sollte bereitstehen, damit der Großfürst jederzeit seine Studien wieder aufnehmen konnte. Ich
sorgte dafür, dass die Schreibfedern scharf, die Tintenfässer gefüllt waren, ich staubte Peters Zinnsoldaten ab und achtete darauf, sie immer wieder genau auf die richtige Position auf dem Schlachtfeld zu stellen.
Und ich dachte die ganze Zeit daran, wie Katharina sich freuen würde, mich wiederzusehen.
»Heute wollen wir mal
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