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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Zerbst gefahren, in ihrem Gepäck kostbare Geschenke und Andenken an die Herrlichkeit, zu der sie nie gelangt war. Wenn Peter gestorben wäre, wo wäre Katharina jetzt? Wäre sie die Frau irgendeines deutschen Duodezfürsten, eine Kaiserin, die in einem baufälligen Schloss residierte und über eine Herde Kühe gebot? Und was wäre aus mir geworden?
    Aber Peter starb nicht.
    Ende Januar, sechs Wochen nach Ausbruch seiner Krankheit, machte der Großfürst zum ersten Mal auf wackligen Beinen wieder ein paar Schritte, jeder einzelne von ihnen, wie die Kaiserin
erklärte, ein Beweis der Gnade Gottes. Sie hielt Peters Hand, als der Chirurg die Verbände von seinem Gesicht entfernte. Sie versicherte ihm, dass die hässlichen roten Flecken bald verschwinden würden.
    Anfang Februar durfte der Großfürst nach Sankt Petersburg zurückkehren, wo er nach und nach seine Pflichten wieder aufnehmen sollte. Der Kronprinz Russlands hat sich tapfer geschlagen , hieß es im letzten offiziellen Bericht über seinen Gesundheitszustand, und sich als vorbildlicher Soldat erwiesen. Entschlossen und mit unbeirrtem Mut kämpfte er gegen die Krankheit, bis Gott ihm den Sieg schenkte.
    Aber der Sieg ist nicht alles. Man muss auch bedenken, was man mit diesem Sieg gewonnen hat.
     
    Die Kaiserin wies Professor Staehlin an, bis auf Weiteres die Lektüre ausländischer Zeitungen und militärhistorischer Werke auszusetzen. »Warwara soll ihm etwas Leichtes vorlesen, etwas, das ihn von dem Gedanken an den Tod ablenkt.«
    Ich ging in die Palastbibliothek. Die französischen Romane und historischen Werke kamen nicht in Frage. Kein tragisches Liebesleid, kein Tacitus, keine Geschichten aus dem alten Rom. Der Großfürst sollte sich nicht mit Mord und Intrigen beschäftigen. Ich entschied mich für Reiseberichte. Sir John Mandevilles Beschreibungen der Andamanen. Geschichten von Menschen ohne Kopf und mit Augen in den Schultern und von anderen, die so übergroße Oberlippen haben, dass sie ihr Gesicht damit bedecken können, wenn sie in der Sonne ein Schläfchen halten.
    Viele Abende lang saß ich in einer Ecke von Peters Schlafzimmer, neben mir eine Kerze, und las vor. Die Vorhänge waren zugezogen – nicht einmal das Licht des Mondes sollte den Raum erhellen. Wenn ich von dem Buch aufblickte, konnte ich in der Dunkelheit nur schemenhaft den mageren Körper des Großfürsten ausmachen, der auf dem Bett lag, das Gesicht mit einem Gazeschleier bedeckt. Sobald ich zu lesen aufhörte, schlug er mit der
Faust wütend auf seine Matratze und verlangte, dass ich fortfuhr.
    Manchmal sah ich ihn an seinem Ohr zupfen, bis es blutete. Manchmal hörte ich ihn schluchzen, ein langgezogenes dünnes Wolfsheulen, das wie erstickt verstummte.
    Er bat mich nie um irgendeinen Dienst, aber ich musste bei ihm bleiben.
    Sein Zustand wird sich wieder bessern , dachte ich. Und so wird die Kaiserin Katharina nicht zurück nach Deutschland schicken.
    Einmal, als ich dachte, er sei eingeschlafen, beugte ich mich über ihn, um sein Kissen glattzustreichen. Die roten Schwellungen auf seiner Haut waren unter dem dünnen Schleierstoff kaum zu sehen.
    Er schlug die Augen auf und starrte mich an. Ich strich weiter über den Kissenbezug. Er bewegte sich nicht, auch als meine Finger seine Haare berührten.
    »Ihre Verlobte macht sich Sorgen um Sie, Hoheit«, sagte ich leise. »Sie würde Sie gerne besuchen.«
    »Ich will sie nicht sehen.«
    Es klang so feindselig, dass ich zusammenfuhr. »Warum nicht?«
    »Sie hört auf den Teufel.«
    »Wer hat Ihnen diesen Unsinn erzählt?«, fragte ich. »Wer verbreitet so gemeine Gerüchte?«
    Plötzlich spürte ich Peters lange, dünne Arme um meinen Hals. Sein ganzer magerer Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Vergebens versuchte ich ihn zu beruhigen. Er wollte mir nicht sagen, wer mit ihm über Katharina geredet hatte, und schüttelte immer nur den Kopf, als ich ihm schilderte, wie bedrückt sie in all den Wochen seiner Krankheit gewesen war, wie sehr es sie bekümmerte, dass er nichts essen wollte.
    Er klammerte sich an meinen Arm, seine Nägel gruben sich ins Fleisch. Am nächsten Tag sollte ich entdecken, dass mein Arm voller blauer Flecken war.
    »Er ist immer noch sehr schwach«, sagte ich am Morgen zu Katharina. »Aber ich bin sicher, dass er das Schlimmste überstanden hat.«
     
    Eines Nachmittags las ich gerade dem Großfürsten vor, als ein Wachsoldat die Kaiserin ankündigte.
    Ich klappte das Buch zu, stand auf und

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