Der Winterpalast
sehen, ob dir Blau steht«, sagte sie etwa, wenn ich zu ihr kam. Und dann ließ sie mich eines ihrer Kleider anprobieren und lief aufgeregt im Zimmer umher und suchte Bänder und Schals, um mich damit herauszuputzen.
Fürstin Johanna hatte sich damit abgefunden, dass ich ihrer Tochter Gesellschaft leistete, und ließ uns allein. So habe ich viele Erinnerungen an schöne Stunden, die wir ungestört in dem dunkel getäfelten Salon zubrachten, zwei junge Mädchen, die versuchten, alle unangenehmen Gedanken an Dinge, die sie ohnehin nicht ändern konnten, zu verscheuchen. Wir liefen albern kichernd durchs Haus, bis uns die Zofe der Fürstin zur Ordnung rief. Oder wir saßen, die Beine untergeschlagen, die Arme einander um die Schultern gelegt, auf einem Sofa und flüsterten in der hereinbrechenden Dämmerung eines Winterabends.
Was ist das Lustigste, das du je getan hast?
Deine größte Dummheit?
Was möchtest du noch einmal und immer wieder erleben?
Was war das Schönste?
Und das Schlimmste?
Aber manchmal wurde Katharina plötzlich ernst. »Sag mir, dass er am Leben bleiben wird, Warenka«, bat sie. »Sag es.«
»Er wird wieder gesund werden.«
Ich legte alle Hoffnung, die ich aufbieten konnte, in diese Worte, um ihre Angst zu vertreiben.
Es war so schön, mit ihr zu reden, Seite an Seite auf dem quietschenden Sofa zu sitzen, Tee zu trinken, saure Gurken mit Honig, ihre Lieblingsspeise, zu essen.
Wie Schwestern.
»Ich habe nie ein Zuhause gehabt, Warenka, ein wirkliches Zuhause, wo ich einfach nur ich selbst sein konnte. Ich musste mir immer bewusst halten, wie die anderen mich sehen. Ich bin immer ein Gast, Warenka. Evangelisch unter Evangelischen, orthodox unter Orthodoxen, deutsch unter Deutschen, russisch unter Russen. Aber wer bin ich, wenn ich allein bin? Ich weiß es nicht mehr.«
Ich wandte mich ab, damit sie meine Tränen nicht sah.
»Warenka?« Sie nahm meine Hand.
»Ich hatte einmal ein Zuhause«, begann ich.
Als die ärztlichen Bulletins aus Chotilowo kürzer und düsterer wurden, hörte ich immer deutlicher einen abfälligen Ton, wenn Katharinas Name erwähnt wurde. Auf den Korridoren des Winterpalasts tauschten Höflinge Erinnerungen an die Zeit der Kaiserin Anna aus, als die verhassten Deutschen das Land regiert hatten. Damals konnte es einem alten Edelmann passieren, dass man ihm befahl, wie ein Huhn zu gackern, und den Fürsten Galizin hatte man gezwungen, eine kalmückische Dienstmagd zu heiraten und seine Hochzeitsnacht in einem Palast aus Eis zu verbringen.
Und diese deutsche Prinzessin war sicher um kein Haar besser als ihre Landsleute.
Katharina wusste, was geredet wurde. »Sie wollen mich nicht, oder?«, fragte sie mich.
Ich versuchte sie zu trösten: »Die Russen sind nicht so freigebig mit ihrem Vertrauen. Sie wollen Sie erst lange auf die Probe stellen, sie wollen ganz sicher sein.«
»Ich muss so oft an ihn denken«, sagte sie. »Wir sind immer um die Wette gelaufen, quer über die Wiese. Es hat ihm nichts ausgemacht, wenn ich gewonnen habe. Aber jetzt, selbst wenn er nicht stirbt …«
Sie atmete tief ein, und dann brach sie in Tränen aus. Ich umarmte sie und hielt sie fest, aber sie hörte nicht auf zu weinen.
Gelangte der Großfürst in diesen schlimmen Tagen in Chotilowo an einen Punkt, wo er daran dachte, einfach die Augen zu schließen und sich von dieser Welt zu verabschieden? Brachte ihn Elisabeth, die immer an seiner Seite war, dazu, ins Leben zurückzukehren? Linderte sie seinen Schrecken, wenn er aus Albträumen aufwachte, in denen sein Vater ihn von sich weg stieß oder sein Eutiner Hauslehrer ihn mit dem Rohrstock schlug und ihn auf harten Erbsen knien ließ? Überzeugte sie ihn davon, dass er immer noch Liebe finden konnte?
»Du musst essen.« Elisabeth redete sanft auf ihn ein, während sie ihn fütterte. Vergebens bat Graf Rasumowski sie, sich zu schonen, selbst der Hinweis darauf, wie Pockennarben eine Frau entstellen, hielt sie nicht davon ab, sich persönlich um den Kranken zu kümmern.
»Noch ein Schlückchen, mein Schatz.«
»Noch einen Bissen.«
»Mein Kindchen.«
»Mein Falke.«
Wenn er damals in Chotilowo in den Armen seiner Tante gestorben wäre, hätte er ein Staatsbegräbnis bekommen. Ganz Russland hätte um ihn getrauert im Gedanken daran, was der gute Kaiser Peter alles getan hätte, um das Wohl seiner Untertanen und den Ruhm des Reichs zu mehren.
Katharina wäre mit ihrer Mutter durch die Weiten Russlands zurück nach
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