Der Winterpalast
jeden Tag vorgelesen, als ein Lakai eintrat und die Großfürstin meldete. Peter zuckte zusammen und biss an seinen Fingernägeln. Ich konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, nicht die Hände vors Gesicht zu schlagen. Er trug an diesem Tag eine voluminöse gepuderte Perücke, weswegen sein Kopf übergroß wirkte, erst recht im Verhältnis zu dem immer noch mageren Hals.
Katharina trat herein, zu schnell, fand ich, zu erwartungsvoll.
»Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht, Peter«, sagte sie. Ihr Schritt stockte, ihr Gesicht wurde bleich. Ich sah, wie sie den
Blick abwandte, von einem Abscheu erfasst, den sie nicht verbergen konnte. Ich sah sie nach Luft schnappen in blinder, nackter Angst.
»Was ist es?«, fragte Peter.
»Eine Geige.«
Sie hielt ihm den Kasten hin. Als seine Hand ihre Finger streifte, zuckte sie zusammen.
»Habe ich das Richtige getroffen?«
Er gab keine Antwort.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Peter.« Ihre Stimme klang angestrengt. »Die Ungewissheit war schrecklich. Ich habe für Sie gebetet. Ich hatte solche Angst. Sie wollten nicht, dass ich Sie besuchte.«
»Wer wollte es nicht?« Er klappte den Deckel auf, nahm aber die Geige nicht heraus.
»Die Kaiserin. Meine Mutter. Alle. Ich fing an, auf dem Clavichord spielen zu lernen, aber ich bin nicht so musikalisch wie Sie.«
Sie redete hastig, um ihr Unbehagen zu verbergen, aber wie hätte er übersehen können, dass ihre Lippen zitterten, dass ihr Lächeln gezwungen war?
»Sie können nicht lange bleiben«, sagte er. »Ich bin immer noch geschwächt.«
»Ich habe für Sie gebetet, Peter.«
»Das sagten Sie bereits.«
Der Großfürst schob den Geigenkasten zur Seite und nahm einen seiner Zinnsoldaten in die Hand. »Ich bin noch nicht ganz wiederhergestellt. Ich muss mich schonen.«
»Ja, geben Sie gut auf sich Acht«, sagte sie. »Auch ich werde auf Sie achtgeben. Sie werden wieder ganz gesund werden.«
Das waren die richtigen Worte, dachte ich, aber sie kamen zu spät.
Von dem Platz vor dem Winterpalast drang lautes Gebell herein. Dort waren oft Hunde, die einander jagten oder sich balgten. Von
Zeit zu Zeit zeigte ein schrilles Quieken an, dass das Spiel in Ernst umgeschlagen war.
Schweigen machte sich breit. Peter streifte Katharina mit einem nervösen Blick.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, stieß er hervor, als sie einen Schritt auf ihn zu trat. Sie erstarrte.
Er stieß an das Tischchen neben dem Bett. Ein Zinnsoldat fiel hinunter.
»Heben Sie ihn auf.«
Sie bückte sich gehorsam. Als sie ihm die Figur hinstreckte, nahm er sie nicht.
»Stellen Sie ihn wieder da hin, wo er war.«
Sie stellte den Zinnsoldaten auf das Tischchen. Ich sah ihr an, dass sie sich zwingen musste, den Blick nicht von Peters pockennarbigem Gesicht abzuwenden.
»Gehen Sie jetzt. Ich möchte Sie nicht mehr sehen.«
Sie rührte sich nicht.
»Gehen Sie.« Peters Stimme klang schrill.
Sie verneigte sich.
»Gehen Sie!«
Langsam drehte sie sich um und schritt hinaus.
Am Abend schlüpfte ich in Katharinas Schlafzimmer. Sie lag bewegungslos, die Augen weit offen, auf ihrem Bett. Ihr linker Fuß war bandagiert und ruhte auf zwei untergeschobenen Kissen.
Man hatte sie wieder zur Ader gelassen.
Ich musste nicht fragen, was passiert war, ich wusste es bereits von ihren Kammerzofen: Kaum hatte sich die Tür von Peters Schlafzimmer hinter ihr geschlossen, hatte die Großfürstin die Hände auf ihren Bauch gedrückt. Sie stürzte zum Abtritt und erbrach das Omelett, das sie zum Frühstück gegessen hatte. In ihrem Zimmer musste sie noch einmal erbrechen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Gesicht war stark gerötet, aber ihre Hände waren eisig kalt.
Die Zofen erzählten, ihre Mutter habe ihr befohlen, mit dem Weinen aufzuhören, und sie geohrfeigt, als sie es nicht konnte. »Wenn er dich nach Hause schickt, du dummes Ding, wartet dort nichts als Schande auf dich!«, hatte die Mutter geschrien.
Die Großfürstin, tuschelten die Zofen, habe sich erst beruhigt, als der Chirurg gekommen sei und ihr vier Unzen Blut abgenommen habe.
Ich nahm Katharinas Hand. Ich spürte den sanften Druck ihrer kalten Finger.
Behutsam tupfte ich ihr die Tränen vom Gesicht.
Sie drehte den Kopf. Und dann sagte sie leise: »Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte, Warenka.«
In dieser Nacht nahm ich den Bernstein mit den zwei Bienen aus dem Kästchen. Durch die Ritzen in der Holzvertäfelung drang der Duft von Weihrauch, den die Zofen im Schlafzimmer des
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