Der Winterschmied
in der Luft, wo man die Augen vermutete.
Tiffany stand stocksteif da. Ihre Gedanken waren wie eingefroren. Ihr Körper wartete auf Anweisungen.
Eine Hand aus Schneeflocken streckte sich ihr entgegen, aber ganz langsam, so wie man sich einem Tier nähert,
das man nicht erschrecken will. Tiffany spürte... etwas, Dinge, die ungesagt blieben, weil es keine Stimme gab, die sie aussprechen konnte. Sie spürte eine Art... Anstrengung, als würde das Wesen sein ganzes Herz hineinlegen, obwohl es gar nicht wusste, was ein Herz ist.
Die Hand verharrte etwa dreißig Zentimeter vor ihr. Sie war zu einer Faust geballt, drehte sich nun und öffnete sich.
Etwas glänzte auf der Handfläche. Es war das weiße Pferd aus Silber an einer feinen Silberkette.
Tiffanys Hand schnellte an ihren Hals. Sie hatte die Kette am vergangenen Abend getragen! Bevor sie... aufgebrochen waren, um... sich den Tanz anzusehen...
Sie musste sie verloren haben! Und der Winterschmied hatte sie gefunden!
Das ist interessant, sagten die Dritten Gedanken, die sich auf ihre eigene Art und Weise mit der Welt beschäftigten. Man kann also nicht erkennen, was sich in einer unsichtbaren Faust befindet. Wie funktioniert das? Und warum befinden sich dort, wo man die Augen vermutet, diese kleinen violett-grauen Punkte in der Luft? Warum sind sie nicht unsichtbar?
So ist das mit den Dritten Gedanken. Wenn ein großer Felsbrocken auf einen herabstürzt, denken sie: Ist das magmatisches Gestein, wie zum Beispiel Granit, oder handelt es sich um Sandstein?
Der derzeit etwas weniger präzise funktionierende Teil von Tiffanys Gehirn beobachtete, wie das silberne Pferd an der Kette baumelte.
Ihr Erster Gedanke lautete: Nimm es.
Der Zweite Gedanke lautete: Nimm es nicht. Das ist eine Falle.
Der Dritte Gedanke lautete: Nimm es bloß nicht! Es ist kälter, als du dir vorstellen kannst.
Und dann setzte sich der Rest von ihr über die Gedanken hinweg und sagte: Nimm es. Es ist ein Teil von dir. Nimm es. Denk an zu Hause, wenn du es in der Hand hältst. Nimm es!
Sie streckte die rechte Hand aus.
Das Pferd fiel hinein. Instinktiv schloss sie die Finger darum. Es war tatsächlich kälter, als sie sich vorstellen konnte, und es brannte.
Sie schrie. Die Umrisse des Winterschmieds verschwanden in einem Wirbel aus weißen Flocken. Der Schnee zu Tiffanys Füßen spritzte mit einem vielstimmigen »Potzblitz!« auseinander, als Größte ihre Füße packten und sie aufrecht über die Lichtung zur Hüttentür trugen.
Tiffany zwang sich, die Hand zu öffnen, und mit zitternden Fingern riss sie das silberne Pferd von ihrer Handfläche. Es hinterließ einen deutlich erkennbaren Abdruck: ein weißes Pferd auf rosarotem Fleisch. Es war keine Verbrennung, sondern eine... Erfrierung.
Fräulein Verrats Stuhl drehte sich rumpelnd herum. »Komm her, Kind!«, befahl die alte Hexe.
Tiffany hielt sich noch immer die schmerzende Hand und verbiss sich die Tränen, als sie zu Fräulein Verrat ging. »Tritt hier neben meinen Stuhl, sofort!«
Tiffany kam der Aufforderung nach. Dies war nicht der geeignete Zeitpunkt für Ungehorsam.
»Ich möchte dir ins Ohr sehen«, sagte Fräulein Verrat. »Streich mal die Haare beiseite.«
Tiffany hielt ihre Haare zurück und zuckte zusammen, als sie die Schnurrhaare einer Maus spürte. Dann wurde das kleine Tier wieder fortgenommen.
»Hm, das überrascht mich«, sagte Fräulein Verrat. »Ich sehe nichts.«
»Äh... was hast du denn erwartet?«, fragte Tiffany vorsichtig.
»Tageslicht!«, blaffte Fräulein Verrat so laut, dass die Maus davon stob. »Hast du denn überhaupt keinen Verstand, Kind?«
»Äh, ich weiß nich', ob es jemanden interessiert«, sagte Rob Irgendwer, »aber ich glaube, der Winterschmied is' abgehauen. Un' es schneit nich' mehr.«
Niemand hörte ihm zu. Wenn Hexen streiten, bekommen sie nichts um sich herum mit.
»Es gehört mir!« Wieder griff Tiffany nach Pferd und Kette.
»Flitterkram!«
»Nein!«
»Dies is' vielleicht nich' der richtige Zeitpunkt, euch darauf hinzuweisen...«, fuhr Rob kläglich fort.
»Glaubst du, das brauchst du, um eine Hexe zu sein?«
»Ja!«
»Eine Hexe braucht keine Hilfsmittel!«
»Du hast Wirrwarrs benutzt!«
»Benutzt, ja! Nicht gebraucht. Nicht gebraucht*. « »Ich meine, der Schnee schmilzt...«, sagte Rob und lächelte nervös.
Vor Zorn konnte Tiffany ihre Zunge nicht mehr im Zaum halten. Wie konnte es diese dumme alte Vettel wagen zu behaupten, sie brauchte keine Hilfsmittel!
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