Der Winterschmied
in die Bäume geklettert. Doch nach einer Weile hob der Große Yan die Hand und sagte: »Wir werden verfolgt.«
»Sei doch nicht albern«, erwiderte Rob Irgendwer. »In diesem Wald lebt nichts mehr, das verrückt genug is', Größte zu jagen!«
»Auf mein Gefühl is' Verlass«, beharrte der Große Yan. »Das hab ich im Urin. Etwas schleicht sich an uns heran, in diesem Augenblick!«
»Nun, dem Urin eines Mannes will ich nicht widersprechen«, sagte Rob müde. »Also gut, Jungs, wir schwärmen aus und bilden einen großen Kreis!«
Mit gezückten Schwertern schwärmten die Größten aus, aber nach einigen Minuten setzte ein allgemeines Murren ein. Es gab nichts zu sehen oder zu hören. Ein paar Vögel zwitscherten in sicherer Entfernung. Alles blieb ruhig und friedlich, eher untypisch dafür, dass Größte anwesend waren.
»Tut mir leid, Großer Yan, aber ich glaube, auf deinen Urin is' doch kein Verlass«, sagte Rob Irgendwer.
Genau in diesem Augenblick fiel ihm Horace der Käse von einem Ast auf den Kopf.
Viel Wasser floss unter der großen Brücke von Lancre hindurch, aber von hier oben konnte man es wegen der Gischt der nahen Wasserfälle kaum sehen - wie Nebel hing sie in der kalten Luft. Wildwasser toste durch die tiefe Schlucht, und dann sprang der Fluss wie ein Lachs, wurde zu einem Wasserfall und donnerte unten auf die Ebene. Vom unteren Ende des Wasserfalls aus konnte man dem Verlauf des Flusses am Kreideland entlang folgen, doch da er in weiten, trägen Kurven floss, kam man schneller voran, wenn man in einer geraden Linie flog.
Tiffany war bislang nur einmal stromaufwärts geflogen, als Frau Grad sie in die Berge gebracht hatte. Seit damals hatte sie immer den langen Weg nach unten genommen, indem sie dem Verlauf der kurvenreichen Kutschenstraße gefolgt war. Über den tosenden Wasserfall zu fliegen und dann mit steil nach unten gerichtetem Besen in einen Abgrund voller kalter feuchter Luft abzutauchen - das stand weit oben auf der Liste jener Dinge, die sie nie in ihrem Leben machen wollte.
Oma Wetterwachs stand jetzt auf der Brücke. Sie hatte das silberne Pferd in der Hand.
»Das ist die einzige Möglichkeit«, sagte sie. »Es wird auf dem tiefen Grund des Meeres landen. Soll der Winterschmied dort nach dir suchen!«
Tiffany nickte. Sie weinte nicht, was nicht dasselbe ist wie, nun, nicht zu weinen. Ständig liefen Leute umher, ohne zu weinen, aber sie verschwendeten keinen Gedanken daran. Doch genau das tat Tiffany jetzt. Sie dachte: Ich weine nicht...
Es ergab einen Sinn. Natürlich ergab es einen Sinn. Es war alles Boffo! Jeder Stock ist ein Zauberstab und jede Pfütze eine Kristallkugel. Die Dinge hatten nur dann Macht, wenn man daran glaubte. Wirrwarrs, Schädel und Zauberstäbe waren wie... Schaufeln, Messer und Brillen. Sie waren wie... Hebel. Mit einem Hebel konnte man einen großen Stein bewegen, aber der Hebel selbst brauchte sich dabei überhaupt nicht anzustrengen.
»Es muss deine Entscheidung sein«, sagte Oma. »Ich kann sie nicht für dich treffen. Es ist zwar nur ein kleines Ding, aber es bringt dich in Gefahr, solange du es bei dir trägst.«
»Weißt du, ich glaube nicht, dass er mir wehtun wollte«, sagte Tiffany. »Er war nur irritiert.«
»Glaubst du? Möchtest du ihn noch einmal irritiert erleben?«
Tiffany dachte an das sonderbare Gesicht... Sie hatte dort die Konturen eines Menschen gesehen - mehr oder weniger -, aber es war so gewesen, als hätte der Winterschmied versucht, ein Mensch zu sein, ohne zu wissen, worauf es dabei ankam.
»Glaubst du, er wird auch anderen Leuten etwas tun?«, fragte sie.
»Er ist der Winter, Kind. Und der Winter besteht nicht nur aus hübschen Schneeflocken, oder?«
Tiffany streckte die Hand aus. »Bitte gib es mir zurück.«
Oma Wetterwachs zuckte mit den Schultern und gab ihr das silberne Pferd.
Es lag auf Tiffanys Hand, auf der seltsamen weißen Narbe. Es war ihr erstes Geschenk gewesen, das nicht nützlich war, das keinem bestimmten Zweck diente.
Ich brauche es nicht, dachte sie. Meine Kraft kommt aus dem Kreideland. Aber wird das Leben immer so sein? Werde ich nie etwas besitzen, das ich nicht brauche?
»Wir sollten es an etwas Leichtem festbinden«, sagte Tiffany in sachlichem Ton. »Sonst bleibt es schon hier auf dem Grund liegen.«
Sie suchte im Gras neben der Brücke, fand einen Stock und wickelte die silberne Kette darum.
Es war Mittag. Tiffany hatte das Wort Mittagslicht erfunden, weil ihr der Klang gefiel. Um
Weitere Kostenlose Bücher