Der Wissenschaftswahn
alten Pantheon der Götter und Göttinnen zuließ. Für Epikur ( 341 –270 v. Chr.), einen der einflussreichsten atomistischen Denker, war der Materialismus sogar das, was den Menschen die Furcht vor unberechenbaren Göttern und möglichen göttlichen Vergeltungsmaßnahmen nach dem Tod nehmen konnte. Er befürwortete eine moderate Form des Hedonismus, frei von solchen Ängsten. Glück, sagte er, sei am ehesten in den einfachen Freuden des Lebens und in der Gesellschaft von Freunden zu finden. [108]
Der römische Dichter und Philosoph Lukrez (wahrscheinlich 99 –55 v. Chr.), ein Anhänger des epikureischen Materialismus, verfasste ein Lehrgedicht mit dem Titel
De rerum natura
, »Über die Natur der Dinge«. Darin stellt er zunächst Epikur als den Helden dar, der den Drachen des Aberglaubens und der Religion tötete. Im weiteren Verlauf gab er eine mechanistische Erklärung der Realität, die er als keinem höheren Zweck dienende Gesamtheit der Bewegungen und Wechselwirkungen der ewigen Atome sah.
Lukrez geriet im Mittelalter weitgehend in Vergessenheit, erst in der Renaissance erschien eine gedruckte Ausgabe seines Werks ( 1473 ), die vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts an wesentlich zum Wiederaufleben des Atomismus in Europa beitrug. Es sprach die Väter der mechanistischen Naturwissenschaft nicht wegen seiner Religionskritik, sondern wegen seines mechanistischen Standpunkts an. Besonders wichtig für die Verbreitung des atomistischen Denkens in Europa war der französische Theologe, Naturwissenschaftler und Philosoph Pierre Gassendi ( 1592 –1655 ), der die atomistische Lehre mit dem Christentum in Einklang zu bringen versuchte. Die Väter der mechanistischen Naturwissenschaft folgten ihm darin, indem sie Gott, den göttlichen Ursprung des Universums und die Unsterblichkeit der Seele, aber auch der Atome akzeptierten.
Im Grunde verband die mechanistische Naturlehre des siebzehnten Jahrhunderts zwei griechische Ewigkeitslehren zu einem kosmischen Dualismus: Die Natur bestand jetzt aus unwandelbaren Atomen, und deren Bewegungen und Wechselwirkungen regierten unwandelbare und von Raum und Zeit unabhängige Naturgesetze. Während die griechischen Denker in vorchristlicher Zeit, etwa Demokrit und Epikur, jedoch keine Mühe mit der Vorstellung ewiger Atome hatten, mussten die Atome für die christlichen Begründer der mechanistischen Naturwissenschaft am Anfang von Gott gemacht worden sein.
Robert Boyle zog den Begriff »Korpuskel« vor, um die atheistischen Implikationen des Atomismus und Mechanismus zu umgehen. Nach seiner Auffassung hatte Gott die Materie bei der Erschaffung der Welt in sehr viele winzige Teilchen aufgeteilt, denen er unterschiedliche Bewegungsimpulse mitgab, um sie voneinander getrennt zu halten. [109] Nach ihrer Erschaffung änderten sich die Atome nicht mehr. Dem stimmte Isaac Newton zu und ergänzte es um seine eigene Sicht der Dinge:
Mich dünkt es wahrscheinlich, dass Gott die Materie am Anfang als feste, massive, harte, undurchdringliche, bewegliche Teilchen erschaffen hat … und diese ursprünglichen Teilchen, da sie Festkörper sind, unvergleichlich härter sein müssen als alle porösen Körper, die aus ihnen bestehen. So hart sogar, dass sie niemals zerbrechen können und keine normale Kraft ausreicht, um das zu teilen, was Gott bei der Schöpfung als ungeteilt erschuf. [110]
Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts bekamen die Atome eine schärfere Kontur als die kleinsten Einheiten der chemischen Elemente. Einer der Väter der modernen Chemie, Antoine Lavoisier ( 1743 –1794 ), gab dem Erhaltungssatz der Masse oder Materie eine neue Bedeutung, nämlich dass die Gesamtmasse aller Produkte einer chemischen Reaktion der Gesamtmasse aller Reagenzien vor der Reaktion gleich sei. Er definierte »Element« als Grundsubstanz, die nicht durch chemische Verfahren noch weiter aufgeschlossen werden kann. Er erkannte Sauerstoff und Wasserstoff als Elemente und gab ihnen ihre Namen. Leider war er auch Mitinhaber der »Pariser Mauer«, deren Zweck es war, Steuern auf die nach Paris eingeführten Waren zu erheben, und das trug ihm auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution den Tod durch die Guillotine ein. Wenig später entdeckte John Dalton ( 1766 –1844 ), dass Elemente sich in ganzzahligen Vielfachen miteinander verbinden. Nach seiner Vermutung verbanden sich Atome zu Gebilden wie CO 2 und H 2 O. Die jetzt einsetzende Entwicklung der Chemie und ihre grandiosen Erfolge machten den
Weitere Kostenlose Bücher