Der Wissenschaftswahn
ging davon aus, dass sie heimlich doch etwas zu sich nahm, aber ihre Anhänger versicherten mir, dass es sich um einen authentischen Fall handele. Manche kannten sie über Jahre oder lebten sogar mit ihr zusammen, sicher wäre ihnen heimliche Nahrungsaufnahme aufgefallen. Nun, diese Leute spielten Satimatas Spiel entweder mit, oder sie verstand sich wirklich sehr gut auf Täuschung. Meine Skepsis war ein unmittelbarer intellektueller Reflex. Als ich sie dann kennenlernte und mit anderen sprach, denen sie vertraut war, erschien sie mir nicht als Scharlatan, sondern als eine Frau von tiefer Religiosität. Erst später fand ich heraus, dass sie kein Einzelfall war. In Indien gab es noch weitere heilige Frauen und Männer, die jahrelang ohne Nahrungsaufnahme gelebt haben sollen. Manche wurden als Betrüger entlarvt, bei anderen jedoch konnte auch unter medizinischer Beobachtung keine heimliche Nahrungsaufnahme festgestellt werden.
Die Erklärung, die in Indien am häufigsten für solche Phänomene gegeben wird, besagt, dass Energie direkt aus dem Sonnenlicht bezogen wird oder aus dem Atem, insbesondere aus der im Atem enthaltenen Lebenskraft Prana. Man spricht hier auch vom »Atem-Fasten«. Wenn es dieses Phänomen gäbe, müsste es übrigens nicht unbedingt den Satz von der Erhaltung der Energie in Frage stellen, sondern würde einfach besagen, dass manche Menschen ihre Energie aus anderen Quellen als der Nahrung beziehen.
2010 untersuchte ein Team des Indian Defence Institute of Physiology and Allied Sciences ( DIPAS ) den in der Tempelstadt Anbaji in Gujarat lebenden dreiundachtzigjährigen Yogi Prahlad Jani. Seine Anhänger beteuerten, er habe seit siebzig Jahren nichts mehr gegessen. Für die DIPAS -Studie blieb der Yogi vierzehn Tage lang in einem Krankenhaus, in dem er ständig beobachtet und videoüberwacht wurde. Er badete in dieser Zeit mehrmals und gurgelte, aber die Mediziner sagten, er habe weder getrunken noch gegessen und nichts ausgeschieden. Eine frühere Untersuchung ( 2003 ) hatte ähnliche Ergebnisse erbracht. Der Leiter von DIPAS sagte: »Wenn jemand fastet, ergeben sich manche Veränderungen des Stoffwechsels, aber in diesem Fall haben wir nichts gefunden.« [152] Das ist ganz wichtig, denn ein zweiwöchiges Fasten ist an sich noch nichts Besonderes. Die meisten Menschen wären dazu in der Lage, aber es würde zu deutlichen und nachweisbaren Veränderungen im Stoffwechselgeschehen kommen.
Auch im Westen war immer wieder von Menschen die Rede, die über lange Zeit ohne Nahrung auskommen, darunter Heilige oder als heilig verehrte Menschen wie Katharina von Siena (gest. 1380 ), Lidwina von Schidam (gest. 1433 ), die achtundzwanzig Jahre nichts gegessen haben soll. Bei Nikolaus von Flüe (gest. 1487 ) sollen es neunzehn und bei der ehrwürdigen Domenica del Paradiso (gest. 1553 ) zwanzig Jahre gewesen sein. Im neunzehnten Jahrhundert lebten zwei fromme Frauen, die zwölf Jahre lang die Hostien bei der Kommunion als einzige Nahrung zu sich nahmen: Domenica Lazzari (gest. 1848 ) und Louise Lateau (gest. 1883 ). [153] Im neunzehnten Jahrhundert gab es in Nordamerika und Europa außerdem das verbreitete Phänomen der »fasting girls«, die sicher zum Teil einfach anorektisch waren und von denen einige des Betrugs überführt wurden; aber es gibt eben auch ein paar wohldokumentierte Fälle von Mädchen, die jahrelang ohne Nahrung auskamen.
Herbert Thurston, ein jesuitischer Gelehrter, hat dieses faszinierende Phänomen in seinem 1952 erschienenen Buch
The Physical Phenomena of Mysticism
(
Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik,
1956 ) dokumentiert. Er betonte darin, dass Menschen, die keine Nahrung zu sich nehmen, nicht unbedingt besonders spirituell sein müssen. So hatte offenbar eine junge Schottin namens Janet McLeod jahrelang ohne Nahrungsaufnahme überlebt. Der Fall wurde genau untersucht, und 1767 erschien darüber ein Bericht in den
Philosophical Transactions of the Royal Society
. Diese junge Frau war keine Heilige, sondern ernsthaft krank.
Im achtzehnten Jahrhundert ersuchte Papst Benedict XIV . die medizinische Fakultät der Universität von Bologna, solche Fälle von Nahrungsabstinenz zu untersuchen. Die Ärzte räumten ein, es gebe sicher Fälle von Vorspiegelung, Leichtgläubigkeit und fehlerhafter Beobachtung, daneben jedoch auch »echte und gut bezeugte Beispiele von langer Nahrungsabstinenz, bei denen nichts für die Beteiligung übernatürlicher Ursachen sprach«. [154]
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