Der Wissenschaftswahn
erscheinen.
Es gibt aber auch relativ neue Moleküle, etwa die vielen chemischen Verbindungen, die erstmals im zwanzigsten Jahrhundert synthetisiert wurden. Hier darf man annehmen, dass sich die Gewohnheiten gerade erst bilden. Ähnliches gilt für neue Verhaltensmuster bei Tieren oder neue Fertigkeiten des Menschen.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigte der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce ( 1839 –1914 ) auf, dass die Vorstellung festgelegter und unveränderlicher Gesetze, die dem Universum von Anfang an auferlegt werden, nicht mit einer evolutionären Philosophie zu vereinbaren ist. Als einer der ersten vermutete er, dass die Naturgesetze eher Gewohnheiten sein könnten und die Tendenz zur Gewohnheitsbildung etwas Spontanes ist: »Es bestand ein leichter Hang, Regeln zu folgen, denen bereits gefolgt worden war, und aus diesem Hang ergab sich, dass die Regeln durch ihre eigene Anwendung immer strikter befolgt wurden.« [192] »Das Gesetz der Gewohnheit ist das Gesetz des Geistes«, sagte er weiterhin, und der wachsende Kosmos war für ihn lebendig. »Materie ist nichts anderes als abgestorbener Geist, abgestorben durch die Entwicklung von Gewohnheiten bis zu einem Punkt, wo es kaum noch möglich ist, sie wieder aufzubrechen.« [193]
Friedrich Nietzsche ging um die gleiche Zeit noch etwas weiter und vermutete, die Naturgesetze unterlägen der natürlichen Auslese:
Sollte es möglich sein, die Gesetze der mechanischen Welt … als Ausnahme und gewissermaßen Zufälle des allgemeinen Daseins abzuleiten, als eine Möglichkeit von vielen unzähligen Möglichkeiten? … Hätten wir als allgemeinste Form des Daseins wirklich eine noch nicht mechanische, den mechanischen Gesetzen entzogene (wenn auch nicht ihnen unzugängliche) Welt anzunehmen? … So dass das Entstehen der mechanischen Welt ein gesetzloses Spiel wäre, welches endlich ebensolche Konsistenz gewänne wie jetzt die organischen Gesetze für unsere Betrachtung? So dass alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden, unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, von ihnen übrig geblieben oder in einzelnen Teilen der Welt zur Herrschaft gelangt, in anderen nicht? [194]
Ganz im Sinne von Peirce schrieb der Psychologe und Philosoph William James ( 1842 –1910 ):
Wenn man die Evolutionstheorie wirklich ernst nimmt, sollte man sie nicht nur auf Gesteinsschichten, Tiere und Pflanzen anwenden, sondern auch auf die Sterne, die chemischen Elemente und die Naturgesetze. Es muss, so möchte man annehmen, eine graue Vorzeit gegeben haben, in der die Dinge wirklich chaotisch waren. Ganz allmählich, aus den zufälligen Möglichkeiten, die sich in jener Zeit ergaben, entstanden ein paar zusammenhängende Dinge und Gewohnheiten, und das waren die ersten Ansätze zu geregelten Abläufen. [195]
Alfred North Whitehead schrieb: »Zeit unterscheidet sich von Raum durch Vererbung von Mustern der Vergangenheit.« Diese Vererbung von Mustern bedeutet, dass sich Gewohnheiten bilden. Whitehead: »Es ist ein Fehler, von ›Naturgesetzen‹ zu sprechen. Es gibt keine Naturgesetze. Es gibt nur zeitweilige Gewohnheiten der Natur.« [196]
Diese Denker waren ihrer Zeit weit voraus. Für sie war dieses Universum ein evolutionäres Universum. Doch ihre Zeitgenossen in der Physik glaubten weiterhin an ein ewiges Universum aus dauerhafter Materie und Energie, das unter der Herrschaft unwandelbarer Naturgesetze, insbesondere des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, seinem eigenen Wärmetod entgegenging. Die Urknall-Theorie wurde erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Schulmeinung. Eine evolutionäre Kosmologie, das hatten Peirce, James und Whitehead klar erkannt, impliziert die Evolution von Gewohnheiten.
Morphische Resonanz
Meine eigene Hypothese besagt, dass die Bildung von Gewohnheiten auf etwas beruht, was ich »morphische Resonanz« nenne. [197] Ein Aktivitätsmuster steht über Raum und Zeit hinweg in Resonanz mit späteren Mustern einer ähnlichen Art. Diese Hypothese gilt für alle selbstorganisierenden Systeme, zum Beispiel Atome, Moleküle, Kristalle, Zellen, Pflanzen, Tiere und Tiergesellschaften. Sie alle schöpfen aus einem kollektiven Gedächtnis und tragen zu ihm bei.
Ein wachsendes Kupfersulfatkristall beispielsweise steht in Resonanz mit allen früheren Kristallen dieser Art, es folgt derselben Kristallisationsgewohnheit und besitzt dieselbe Gitterstruktur. Ein Eichenschössling folgt der
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