Der Wissenschaftswahn
Gewohnheiten. Manche neuen Muster halten der natürlichen Auslese stand, andere nicht.
Das Schöpferische ist deshalb so geheimnisvoll, weil es neue Muster hervorbringt, die es so noch nicht gab. Normalerweise erklären wir uns die Dinge als Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Die Ursache ist zuerst da und enthält die Wirkung irgendwie schon in sich, die Wirkung folgt aus der Ursache. Wenn wir diesen Gedankengang auf die Entstehung einer neuen Lebensform, eines Kunstwerks, einer Idee anwenden, muss das neue Muster schon als latente Möglichkeit vorhanden gewesen sein. Unter geeigneten Umständen wird das latente Muster zur Realität, es wird eher
entdeckt
als neu geschaffen. Kreativität ist die Realisation von ewig präexistierenden Möglichkeiten. Kurzum, das neue Muster wurde nicht erzeugt oder geschaffen, sondern war immer als Potenzial vorhanden und wird nur jetzt manifest.
Das ist im Wesentlichen die platonische Theorie des Schöpferischen. Alle nur möglichen Formen haben schon immer als zeitlose Ideen oder transzendente Formen existiert, vielleicht auch als mathematisches Potenzial, das in den ewigen Naturgesetzen liegt. Oder wie Henri Bergson ( 1859 –1941 ) es ausdrückte: »Das Mögliche wäre von vornherein da gewesen wie ein Gespenst, das auf die Stunde seines Erscheinens wartet; es wäre also Wirklichkeit geworden durch Hinzufügen von irgendetwas, durch ich weiß nicht welche Blut- oder Lebenstransfusion.« [212] Bergson, ein evolutionär denkender Philosoph, der seiner Zeit weit voraus war, beeinflusste William James und Alfred North Whitehead. In seinem berühmten Buch
Denken und schöpferisches Werden
machte er sehr deutlich, wie radikal der Evolutionsgedanke mit den platonischen Denkgewohnheiten brach:
In Wahrheit hat die Philosophie niemals die fortgesetzte Schöpfung von unvorhersehbar Neuem offen anerkannt. Die Alten sträubten sich schon dagegen, weil sie sich – die alle mehr oder weniger Platoniker waren – das Sein ein für alle Mal vollständig und vollkommen im unveränderlichen System der Ideen gegeben dachten: Die Welt, die vor unseren Augen abrollt, konnte dem also nichts hinzufügen; sie war im Gegenteil nur eine Verminderung oder Entartung; ihre aufeinanderfolgenden Zustände maßen den zu- oder abnehmenden Abstand zwischen dem, was ist, einem in die Zeit projizierten Schatten, und dem, was sein sollte, der in der Ewigkeit thronenden Idee; sie bezeichneten Schwankungen eines Defizits, die wechselnde Form einer Leere. Die Zeit war es, die alles verdorben hatte. Die Modernen stellten sich allerdings auf einen völlig anderen Standpunkt. Sie behandelten die Zeit nicht mehr als einen Eindringling, einen Störenfried der Ewigkeit; aber sie möchten sie gern zu einem reinen Scheindasein reduzieren. Die Zeit ist nur die verworrene Form des Rationalen. Was wir als eine Folge von Zuständen wahrnehmen, begreift unsere Intelligenz, wenn die Nebel einmal gefallen sind, als ein Bezugssystem. Das Wirkliche wird wiederum zum Ewigen mit diesem einzigen Unterschied, dass an die Stelle der Ewigkeit der Ideen, die den Erscheinungen zum Muster dienen, hier die Ewigkeit der Gesetze tritt, in die sie sich auflösen. [213]
In einem ewigen Universum wirkten ewige Formen oder Gesetze ganz angemessen. Sie werden aber durch die Evolution, den Prozess der schöpferischen Entwicklung, in Frage gestellt. Das Schöpferische ist real: Neue Organisationsmuster erscheinen, während sich die Welt entwickelt. Alles, was sich neu ereignet, muss möglich gewesen sein, denn offensichtlich kann nur Mögliches tatsächlich eintreten. Und Bergson sagte eben, dass wir den Möglichkeiten – die unerkennbar bleiben, bis sie tatsächlich eintreten – keineswegs eine präexistierende, Raum und Zeit transzendierende Realität zuschreiben müssen.
Demgegenüber ist der Gedanke der Evolution durch natürliche Auslese nicht platonisch. Er beruht auf Beobachtung an Fossilien und lebenden Organismen. Für Charles Darwin lag der Ursprung der evolutionären Kreativität nicht jenseits der Natur in den ewigen Bauplänen eines Maschinen erfindenden Gottes, wie er in der Naturtheologie eines Paley vorkam (siehe Kapitel 1 ). Die Evolution des Lebens vollzog sich vielmehr spontan. Die Natur selbst brachte all die unzähligen Lebensformen hervor.
Henri Bergson schrieb das Schöpferische dem
élan vital
zu. Wie die Darwinisten, Marxisten und andere Vertreter des Evolutionsgedankens glaubte auch er nicht, dass der
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