Der Wissenschaftswahn
bezeichnet. Er besagt, dass Geist seiner Natur nach immateriell und unkörperlich ist, während Körper Maschinen aus nichtbewusster Materie sind. [217] Die meisten Menschen hängen fraglos dieser dualistischen Sicht der Dinge an – jedenfalls solange sie sie nicht verteidigen müssen. Im Allgemeinen finden wir es selbstverständlich, dass wir eine gewisse Willensfreiheit besitzen und für unser Tun verantwortlich sind. Unser Bildungssystem und unser Rechtssystem beruhen auf dieser Annahme. Wir erfahren uns auch selbst als bewusste Wesen mit einem gewissen Maß an Wahlfreiheit. Wenn wir über Bewusstsein diskutieren, setzen wir ja voraus, dass wir selbst bewusst sind. Trotzdem sind die meisten Naturwissenschaftler und Philosophen der englischsprachigen Welt seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Materialisten, mag diese Doktrin noch so viele Probleme mit sich bringen.
Das stärkste Argument für den Materialismus besteht darin, dass Dualisten nicht erklären können, wie Geist funktioniert und wie er mit dem Gehirn zusammenarbeitet. Für den Dualismus spricht andererseits der Umstand, dass der Materialismus widersprüchlich und so wenig plausibel ist.
Der Streit dauert schon Jahrhunderte an, und das Seele-Körper- oder Geist-Gehirn-Problem bleibt hartnäckig bestehen. Doch bevor wir hier Fortschritte erzielen können, müssen wir uns im Einzelnen klarmachen, was sie eigentlich sagen, schließlich beherrscht ihr Glaube die etablierte Naturwissenschaft und Medizin – und jedermann unterliegt seinem Einfluss.
Geist verneint sich selbst
Die meisten Neurowissenschaftler investieren nicht viel Zeit in die Klärung der logischen Probleme, mit denen der Materialismus behaftet ist. Sie erforschen einfach weiter die Funktionen des Gehirns und hoffen wohl, dass mehr Fakten schließlich auch Antworten erbringen werden. Die Verteidigung des materialistischen oder physikalistischen Glaubens überlassen sie lieber den Philosophen.
Physikalismus ist eigentlich dasselbe wie Materialismus, nur sagt man hier nicht, die gesamte Wirklichkeit sei materiell, sondern bezeichnet sie als physikalisch, das heißt durch die Physik erklärbar – und das bezieht sich auf Energie und Felder ebenso wie auf die Materie. Letzten Endes ist es das, was die Materialisten auch glauben. Wenn ich also im Folgenden den Begriff »Materialismus« verwende, meine ich beides, Materialismus und Physikalismus.
In der materialistischen Philosophie sind mehrere Schulen zu unterscheiden. Die Extremposition ist die des »eliminierenden« Materialismus. Der Philosoph Paul Churchland beispielsweise meint, Geist sei nicht mehr als das, was im Gehirn passiert. Wer glaubt, es gebe Gedanken, Überzeugungen, Wünsche, Motive und andere Geistesregungen, ist Opfer der Populär-Psychologie, eines unwissenschaftlichen Standpunktes, der alsbald durch die richtige Erklärung verdrängt werden wird, nämlich dass es sich bei alldem um nichts weiter als Nervenimpulse handelt. Solcherart Populär-Psychologie sei eine Form des Aberglaubens oder Dämonenglaubens, der vom sicheren Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis verdrängt werde. Bewusstsein ist für Churchland einfach ein »Aspekt« der Gehirntätigkeit. Gedanken und Empfindungen sind eine missverständliche Art, über die Aktivität in bestimmten Regionen der Großhirnrinde zu sprechen.
Andere Materialisten sind »Epiphänomenalisten«, die eher dazu neigen, die Existenz des Bewusstseins zu bejahen. Aber sie sehen es als Nebenprodukt oder Begleiterscheinung oder eben »Epiphänomen« der Gehirntätigkeit, eine Art Schatten. T. H. Huxley war ein früher Vertreter dieser Anschauung. Aus dem Jahr 1874 stammt sein berühmter Vergleich des Bewusstseins mit »der Dampfpfeife, die nebenher aus dem Antriebsaggregat der Lokomotive betrieben werden kann … aber ohne jeden Einfluss auf das mechanische Geschehen ist«. [218] Seine Schlussfolgerung: »Wir sind bewusste Automaten.« [219] Menschen könnten also auch Zombies ohne subjektive Erfahrung sein, denn alles Verhalten folgt ausschließlich aus Gehirntätigkeit. Bewusste Erfahrung bewirkt nichts, und der physischen Welt fehlt ohne sie nichts.
Eine neuere Spielart des Materialismus ist die »Kognitionspsychologie«, die gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die akademische Psychologie beherrschte, zumindest in der englischsprachigen Welt. Sie vergleicht das Gehirn mit einem Computer und alles geistige Geschehen mit Informationsverarbeitung. Bei subjektiven
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