Der Wissenschaftswahn
Erfahrungen – dem Anblick der Farbe Grün, einer Schmerzempfindung oder dem Musikgenuss etwa – handelt es sich um Verarbeitungsprozesse im Gehirn, die selbst ohne Bewusstsein sind.
Manche Philosophen, zum Beispiel John Searle, denken sich die Entstehung von Geist aus Materie in Analogie zur Herkunft von Materialeigenschaften aus der molekularen Feinstruktur, etwa so, wie die Nässe des Wassers durch die Wechselwirkungen sehr vieler Wassermoleküle bewirkt wird. Tatsächlich gibt es in der Natur viele Organisationsebenen (siehe Abbildung 1 ), und jede weist Eigenschaften auf, die nicht allein von ihren Bestandteilen herrühren. Die Atome besitzen Eigenschaften, die nicht einfach als Summe der Eigenschaften ihrer Bestandteile, also der Kernteilchen und Elektronen, aufzufassen sind. Moleküle besitzen Eigenschaften, die in ihren Atomen nicht aufzufinden sind: Das Wassermolekül H 2 O beispielsweise verhält sich ganz anders als nicht chemisch verbundene Sauerstoff- und Wasserstoffatome. Außerdem lässt sich die Nässe des Wassers nicht von isolierten Wassermolekülen ableiten, sondern eben nur von Wasser, dem Verbund sehr vieler dieser Moleküle. Neue physikalische Eigenschaften, so der Fachausdruck, »emergieren« auf jeder neuen Ebene. Im gleichen Sinne ist Bewusstsein nach Searle eine emergierende physikalische Eigenschaft des Gehirns. Es unterscheidet sich von anderen physikalischen Vorgängen, ist aber doch physikalisch. Viele Nichtmaterialisten würden Searle darin zustimmen, dass Bewusstsein irgendwie »emergent« ist, allerdings einzuwenden haben, dass Geist und Bewusstseinsprozesse zwar aus der stofflichen Natur hervorgehen, sich jedoch trotzdem qualitativ vom rein Stofflichen oder Physischen unterscheiden.
Und einige Materialisten schließlich versprechen sich die Lösung von der Evolution. Nach ihrer Vermutung ging Bewusstsein durch natürliche Auslese unter an sich geistlosen Prozessen aus unbewusster Materie hervor. Dass sich Geist entwickelte, spricht dafür, dass er durch die natürliche Auslese begünstigt wurde, und das konnte er nur, wenn er irgendetwas
tat
– er muss etwas bewirkt haben. Dem würden viele Nichtmaterialisten zustimmen. Aber Materialisten möchten eben beides: Das emergierende Bewusstsein muss etwas tun, wenn es als evolutionäre Anpassungsleistung, die durch die natürliche Auslese begünstigt wurde, entstanden ist; andererseits kann es nichts selbst tun, da es ja ein reines Begleitphänomen der Gehirntätigkeit ist, eigentlich nur ein anderes Wort für »Gehirnmechanismen«.
Dieses Dilemma versuchte der Psychologe Nicholas Humphrey 2011 mit der Vermutung zu lösen, Bewusstsein könne sich entwickelt haben, weil es dem Menschen das Gefühl »von etwas Besonderem und Transzendentem« vermittelte und so seine Überlebens- und Vermehrungschancen verbesserte. Als Materialist glaubt Humphrey allerdings nicht, dass unser Geist irgendetwas bewirken kann, und das heißt: Er hat keinen Einfluss auf unser Handeln. Bewusstsein ist reine Einbildung, in Humphreys Worten »eine ›Magical Mystery Show‹, die wir für uns selbst in unserem Kopf inszenieren«. [220] Nun, wenn wir sagen, Bewusstsein sei Einbildung, ist das keine Erklärung des Bewusstseins, sondern setzt es voraus. Einbildung ist vielmehr eine Funktionsweise des Bewusstseins.
Wenn alle diese Theorien nicht überzeugend klingen, dann deshalb, weil sie es nicht sind. Sie überzeugen nicht einmal andere Materialisten, und genau deshalb gibt es so viele konkurrierende Theorien. Searle findet für den Verlauf der Debatte in den letzten fünfzig Jahren diese Worte:
Ein Philosoph stellt eine materialistische Theorie des Geistes auf … Er stößt auf Schwierigkeiten … Kritik an der materialistischen Theorie ist meist von mehr oder weniger fachspezifischem Charakter, aber hinter den formalen Gegenargumenten steckt ein viel tieferer Einwand: dass nämlich die fragliche Theorie einen Wesenszug des Geistes unberücksichtigt ließ … Und das führt zu immer noch panischeren Bemühungen, an der materialistischen These festzuhalten. [221]
Den Philosophen Galen Strawson, selbst ein Materialist, erstaunt die Bereitschaft vieler seiner Philosophenkollegen, den Realitätsgehalt ihrer eigenen Erfahrung zu leugnen:
Ich finde, die Macht der menschlichen Leichtgläubigkeit, dieser Hang des menschlichen Geistes, sich von Theorie und Gläubigkeit mitreißen zu lassen, sollte uns ernüchtern und auch ein wenig beängstigen. Gerade diese
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