Der Wissenschaftswahn
»Leben« zusammen) als Panpsychisten waren: Sie sahen alle Dinge als mehr oder weniger lebendig, schrieben ihnen aber nicht unbedingt auch Empfindungsfähigkeit oder Erfahrung zu. Im Europa des Mittelalters war es für Theologen wie für Philosophen selbstverständlich, dass die Welt voller Lebewesen ist: Pflanzen und Tiere besaßen eine Seele, die Himmelskörper waren von Intelligenzen geleitet. Solch eine Haltung gilt heute als »naiv«, »primitiv« oder »abergläubisch«. Searle nennt sie »absurd«. [227] Dennoch haben sich einige der größten abendländischen Philosophen zur panpsychistischen Sicht der Dinge bekannt, und zwar aus den gleichen Gründen wie Strawson. Als Descartes’ Denksystem bekannt wurde, begannen andere, die seinen strengen Dualismus ablehnten, sich um ein neues Verständnis der Beziehung zwischen Geist und Körper überall in der Natur zu bemühen, nicht nur im menschlichen Gehirn.
Augenblicke der Erfahrung
Der führende panpsychistische Denker der englischsprachigen Welt war Alfred North Whitehead, der zunächst Mathematiker am Trinity College in Cambridge und dort Bertrand Russells Lehrer war. Gemeinsam verfassten sie die
Principia Mathematica
( 1910 –13 ), eines der wichtigsten Werke der mathematischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Whitehead entwickelte danach eine Relativitätstheorie, die annähernd dieselben Voraussagen machte wie Einsteins Theorie und mit den gleichen Experimenten bestätigt wurde.
Vermutlich war Whitehead der erste Philosoph, dem die radikalen Schlussfolgerungen aus der Quantentheorie aufgingen. Er erkannte, dass die Wellentheorie der Materie mit der alten Vorstellung aufräumte, materielle Körper seien wesenhaft räumlicher Natur, die zwar in der Zeit existierten, aber keine Zeit in sich hatten. Gemäß der Quantenphysik ist jedes Grundelement der Materie »ein geordnetes System strömender Schwingungsenergie«. [242] Eine Welle ist keine Augenblickserscheinung, sie existiert in der Zeit, sie verbindet Vergangenheit und Zukunft. Für Whitehead bestand die physikalische Welt nicht aus materiellen Objekten, sondern aus
Ereignissen
. Ein Ereignis ist ein Geschehen oder ein Werden. Es trägt Zeit in sich. Es ist ein Prozess und kein Ding. »Ein sich selbst realisierendes Ereignis«, sagte Whitehead, »lässt ein Muster erkennen.« Das Muster »setzt Dauer voraus, in der wirklich Zeit verstreicht; es kann sich nicht um einen ausdehnungslosen Augenblick handeln«. [243]
Wie Whitehead aufzeigte, lief die Physik selbst auf eine Schlussfolgerung zu, die Bergson bereits gezogen hatte. Zeitlose Materie gibt es nicht. Alle physikalischen Objekte sind Prozesse, die Zeit in sich tragen, eine innere Dauer. Die Quantenphysik macht klar, dass alle Ereignisse Schwingungscharakter haben und deshalb Zeit in Anspruch nehmen – eine Schwingung kann nicht in einem Augenblick ohne Dauer stattfinden. Die Grundeinheiten der Natur, etwa Photonen und Elektronen, sind ebenso zeitlich wie räumlich. »Augenblicks-Natur« gibt es nicht. [244]
Das besonders Verblüffende und Originelle an Whiteheads Theorie bestand in seiner neuen Sicht der Beziehung zwischen Geist und Körper als Beziehung in der
Zeit
. Normalerweise wird diese Beziehung eher als räumlich gesehen: Der Geist ist im Körper, und die stoffliche Welt ist draußen. Der Geist sieht die Dinge von innen, er besitzt ein Innenleben. Selbst aus materialistischer Sicht ist der Geist »innen«, nämlich im Gehirn, eingeschlossen von der Dunkelheit des Schädels. Der übrige Körper und die gesamte Umwelt sind »draußen«.
Für Whitehead jedoch hängen Geist und Materie als Phasen eines Prozesses zusammen. Die Zeit und nicht der Raum ist das Kernelement ihrer Beziehung. Die Wirklichkeit besteht aus Augenblicken in ihrem Verlauf, und ein Augenblick teilt sich dem nächsten mit. Um Augenblicke unterscheiden zu können, muss ein Wahrnehmender vorhanden sein, der den Unterschied zwischen diesem Augenblick und dem vorigen und dem nächsten empfinden kann. Alles Aktuelle ist ein Augenblick der Erfahrung. Wenn er verklingt und ein vergangener Augenblick wird, tritt ein neuer Jetzt-Augenblick an seine Stelle, ein neues Subjekt der Erfahrung. Der eben vergangene Augenblick wird ein in der Vergangenheit liegendes Objekt für ein neues Subjekt – aber auch für andere Subjekte. Whitehead fasste das sehr knapp zusammen in dem Satz: »Eben Subjekt, jetzt Objekt.« [245] Erfahrung ist immer »jetzt«, und Materie ist immer
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