Der Wissenschaftswahn
siebentausend wissenschaftlichen Einzelstudien beruhte und keinen Zweifel daran ließ, dass das Rauchen Lungenkrebs verursacht und eine erhöhte Anfälligkeit für Emphysem (durch die Zerstörung von Lungengewebe), Bronchitis und Herzkrankheiten mit sich bringt. Die Tabakindustrie reagierte mit der Bildung des Council for Tobacco Research, das Forschungsprojekte in über einhundert Kliniken, Universitäten und Forschungslabors finanzierte. In vielen dieser Studien wurde nach Komplikationen durch Nebenfaktoren geforscht, die dem völlig eindeutigen Bild seine Schärfe und Klarheit nehmen würden. Ein leitender Angestellter der Zigarettenfirma Brown and Williamson drückte das 1969 so aus: »Unser Produkt ist der Zweifel, das beste Mittel, um gegen das ›Beweismaterial‹ anzukommen, das in den Köpfen der Bevölkerung spukt.«
Bis zum Ende der siebziger Jahre war die Tabakindustrie der Vereinigten Staaten in zahlreiche Prozesse verwickelt, in denen es um persönliche Schädigung durch das Rauchen ging. 1979 sprach Colin Stokes, ein früherer Vorstand der R. J. Reynolds Tobacco Company, vor einer Versammlung hochrangiger Mitarbeiter über den Stand der Dinge. Die Angriffe gegen die Tabakindustrie, sagte er, beruhten auf Studien, die »unvollständig« seien »oder dubiose Methoden und Hypothesen« zum Hintergrund hätten oder »falsch interpretiert« würden. Die von der Tabakindustrie selbst finanzierten Forschungen würden neue Hypothesen und Interpretationen erbringen, mit denen man einen »stattlichen Fundus an wissenschaftlichem Beweismaterial und wissenschaftlichen Meinungen zugunsten des Produkts« zur Verfügung haben werde. Vor allem werde man für Sachverständige sorgen, die vor Gericht als Zeugen aussagen konnten.
Diese Strategie war früher schon aufgegangen, und es gab keinen Grund zu der Annahme, sie werde in Zukunft nicht mehr funktionieren. Stokes brüstete sich sogar: »Aufgrund der günstigen wissenschaftlichen Gutachten hat vor Gericht noch kein Kläger je auch nur einen Penny mit der Behauptung erstritten, das Rauchen verursache Lungenkrebs oder kardiovaskuläre Schäden.« [589] Diese Strategie führte schließlich zur Niederlage, doch die gerichtliche Klärung wurde endlos verschleppt, die Gesetzgebung zum Raucherschutz über Jahre behindert.
Die Strategie der Tabakindustrie haben sich zahlreiche andere Industriezweige zu eigen gemacht, um die Verwendung giftiger Stoffe wie Blei, Quecksilber, Vinylchlorid, Chrom, Benzol, Nickel und vieler weiterer zu verteidigen. David Michaels war gegen Ende der neunziger Jahre Unterstaatssekretär für Umwelt, Sicherheit und Gesundheit am Energieministerium der Vereinigten Staaten und verfolgte aus nächster Nähe, wie Firmeninteressen die Bemühungen um eine behördliche Beryllium-Aufsicht vereitelten. Beryllium, früher einmal zur Verstärkung von Kernexplosionen eingesetzt, wurde später überwiegend in elektronischen Geräten und anderen Konsumartikeln verbaut. Nachdem sich in den vierziger Jahren herausgestellt hatte, dass Beryllium das Lungengewebe schädigen kann, führte die Atomenergiekommission für die Berylliumbelastung einen Grenzwert von zwei Mikrogramm pro Kubikmeter Luft ein. Später stellte sich heraus, dass Menschen auch bei wesentlich geringerer Belastung krank wurden. Als die US -Regierung in den neunziger Jahren eine Neubewertung der Belastungsgrenze einleitete, feuerte der führende Beryllium-Hersteller Brush Wellman eine ganze Salve von Berichten ab, nach denen die Toxizität von Beryllium wesentlich von der physikalischen Beschaffenheit der Berylliumpartikel bestimmt sei. Deshalb sei eine Entscheidung erst möglich, wenn man diese Faktoren genauer erfasst habe. Mit dem Argument der »Herstellungsunsicherheit« konnte Brush Wellman die Einführung lebensrettender gesetzlicher Auflagen verhindern. [590]
Dieses Herumreiten auf für das Big Business unzumutbaren Unsicherheiten ist inzwischen selbst ein Big Business geworden. Spezialisierte Produktverteidigungsfirmen verzerren zunehmend die wissenschaftliche Literatur, indem sie wissenschaftliche Unsicherheiten kreieren und aufblähen. Damit nehmen sie zugunsten von Umweltverschmutzern und Herstellern gefährlicher Produkte Einfluss auf die Politik. Inzwischen ist es so, dass die hinter jeder Bemühung um bessere Gesundheits- und Umweltrichtlinien stehende wissenschaftliche Beweislast regelmäßig angefochten wird, mag diese noch so erdrückend sein.
Eine weitere Strategie besteht
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