Der Wolf
hatte.
Andererseits wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass sie genau hier ihre letzte Botschaft hinterlassen musste. Dieser Ort selbst sprang als stumme, letzte Botschaft mehr ins Auge als alle letzten Worte.
Mit gesenktem Kopf und dem Rücken zur Kreuzung stieg sie aus dem Wagen und begab sich hinter den Unterstand aus Plexiglas, in dem die Leute bei schlechtem Wetter auf den Bus warteten. Wie gehofft, war sie allein.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Bürgersteigs stand eine große Eiche, die im Sommer ein wenig mehr Schutz und Schatten bot. Sarah betrachtete die kahlen Zweige und dachte: An dem Tag müssen sie frisches, helles Laub getragen haben. Sicher haben sie im Wind geraschelt, ein angenehmes Geräusch, das von der bevorstehenden warmen Jahreszeit gekündet hatte.
Sarah hatte eine große Umhängetasche dabei. Als sie den Baumstamm erreichte, zog sie einen kleinen Hammer und ein paar Nägel heraus.
Wie ein Handwerker stellte sie sich entschlossen mit leicht gegrätschten Beinen vor den Stamm und zog ein Hochglanzfoto im Format 20 × 25 von ihrem Mann, von ihr selbst und ihrer Tochter, das etwa ein Jahr vor dem Unfall entstanden war, heraus. Um es vor dem Nieselregen zu schützen, hatte sie es in eine transparente Plastikhülle gesteckt. Sie nagelte das Bild an den Baum. In Augenhöhe.
Jetzt musste alles zügig gehen. Sie holte einen großen, rosa Briefumschlag aus ihrer Handtasche, den sie ebenfalls in Klarsichtfolie gesteckt hatte. Den Brief befestigte sie direkt unter dem Foto – mit zwei Nägeln, damit er nicht herunterfallen konnte. Das Hämmern klang ihr im abendlichen Zwielicht wie Pistolenschüsse in den Ohren.
Die Aufschrift in Großbuchstaben auf dem Umschlag war denkbar einfach.
ÜBERGEBEN SIE DIES DER POLIZEI
Nicht besonders höflich, dachte sie, kein »Bitte« und kein »Danke«. Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die Kreuzung. Wie hypnotisiert blieb sie stehen. Plötzlich stockte ihr der Atem.
Sie sind von da gekommen. Der Tankwagen ist bei Rot über die Kreuzung gerast. Wahrscheinlich haben sie gerade gelacht, als es passierte. Vielleicht hat er gesungen. Unterwegs hat er unserer Tochter gerne etwas vorgesungen. Es war albern, und er hat sich die Texte zu den Liedern ausgedacht, aber sie hat jedes Mal vor Vergnügen gegluckst, weil auf der ganzen Welt niemand so witzig war wie ihr Daddy.
Sarah schluckte. Sie glaubte, das Quietschen der Reifen zu hören und den Knall des Aufpralls und das Verbeulen von Metall. Die Erinnerung schien sie wie eine Explosion zu zerreißen. Ihr zitterten die Hände, ohne dass sie etwas dagegen machen konnte, und es fühlte sich an, als hätte es ihr plötzlich sämtliche Muskeln im Leib zerfetzt. Wie ein Andächtiger in der Kirche fiel sie auf die Knie und starrte auf den Ort, an dem all ihre Hoffnungen zunichtegemacht worden waren.
Unwillkürlich vergrub sie das Gesicht in den Händen. Wie ein kleines Kind beim Versteckspiel blieb sie reglos sitzen und glaubte, sich nie wieder bewegen zu können.
Im selben Moment hörte sie in ihrem Kopf eine energische Stimme, die sie nicht sofort erkannte und die brüllte: Mach schon, Sarah, worauf wartest du noch!
Sie musste ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, um aufzustehen.
Ihr Puls raste. Sie hatte immer noch weiche Knie. Sie wusste, dass ihr Gesicht so bleich war wie bei einem Herzinfarkt.
Sie kehrte ihrem ganzen Elend den Rücken und machte zuerst einen, dann einen weiteren Schritt. Im ersten Moment schwankte und stolperte sie, während sie wie betrunken unsicher einen Fuß vor den anderen setzte, dann kam sie zügiger voran.
Und dann rannte Sarah.
Der Panik nahe, doch mit wachsender Gewissheit, dass ihr keine andere Wahl blieb, rannte Sarah in die einbrechende Nacht.
Sie spürte den Nieselregen auf den Wangen.
Zumindest glaubte sie, dass es der Regen war; ebenso gut mochten es Tränen sein. Für sie machte es keinen Unterschied. Sie hätte schwören können, dass sie sich laut anfeuerte: »Mach schon! Mach schon! Mach schon!«, doch sie hörte nur das schnelle Tappen ihrer Sohlen auf der Straße.
Ein Häuserblock flog an ihr vorbei, dann der nächste. Sarah versuchte gar nicht erst, einen Rhythmus zu finden; sie sprintete, so dass sie kaum die Häuser sah, die sie hinter sich ließ.
Zum Fluss, dachte sie.
Verzweifelt rannte sie vor ihren Erinnerungen davon. Am Zugang zur Brücke wurde der Bürgersteig ein wenig schmaler, doch sie lief hinauf bis zum ersten Pfeiler. Dort blieb
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