Der Wolf
Stapel, die sie sich für ihn ausgedacht hatte. Es war eine wohldurchdachte Unwahrheit, glaubte sie, noch dazu eine, die der Polizist ihr bereitwillig abkaufen würde.
»Eine Oberschülerin hier an der Schule hat einen Aufsatz über ein Verbrechen geschrieben, das vor ein paar Jahren in ihrer Heimatstadt verübt wurde. Darin wird Ihr Name erwähnt. Ich möchte einfach nur sicherstellen, dass sie die Fakten richtig wiedergegeben hat, bevor ich sie benote.«
»Was für ein Aufsatz?«, fragte der Detective.
»Also«, log Mrs. Böser Wolf weiter, »sie sollten über ein Verbrechen schreiben. Etwas, worüber sie gelesen hatten oder worüber in der Familie diskutiert wurde, oder auch etwas, das ihnen aus der Kindheit haftengeblieben war. Bei der Aufgabenstellung geht es darum, dass sie etwas aus dem Gedächtnis schildern und mit dem vergleichen, was die Medien darüber berichten.«
»Klingt nach einer ziemlich seltsamen Aufgabenstellung.«
Mrs. Böser Wolf gab sich amüsiert.
»Na ja, heutzutage müssen wir uns schon was einfallen lassen, damit sie es nicht aus dem Internet plagiieren oder bei einem Dienstleister einkaufen. Haben Sie Kinder, Detective?«
»Schon, aber die gehen inzwischen ans College. Und Sie haben schon recht, wahrscheinlich kaufen sie gerade die Seminararbeit für morgen mit einer meiner Kreditkarten.«
»Na ja, dann sag ich Ihnen ja nichts Neues.«
Der Detective stimmte ihr mit einem halb belustigten Schnauben zu.
»Also, um was für einen Fall geht es denn?«, fragte er.
Mrs. Böser Wolf lief ein Schauder den Rücken herunter, als sie einen Namen auf ihrer Tabelle vorlas.
Der Detective stieß einen langen Seufzer aus. »Oh, Mann, einer meiner frustrierendsten Fälle«, sagte er. »So was vergisst man sein ganzes Leben nicht mehr. Und Sie sagen, Ihre Schülerin hat darüber geschrieben? Muss damals noch ein Baby gewesen sein.«
»Offenbar ist es ganz in ihrer Nähe passiert, und in ihrer Kindheit hat die Familie des Öfteren darüber gesprochen. Hat einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen.«
»Na ja, kein Wunder. Mädel aus der achten Klasse verschwindet auf dem Heimweg von der Schule. So was kommt vor, aber gewöhnlich woanders, Sie wissen schon. Schließlich sind wir hier nicht in der Großstadt. Na, jedenfalls waren die Leute in der Gegend völlig aufgelöst. Haben Nachbarschaftswachen organisiert. Haben ihre Kinder zur Schule gefahren und wieder abgeholt. In sämtlichen Gemeindezentren wurden diese Treffen abgehalten, Sie wissen schon, diese endlosen Diskussionen: ›Was können wir tun?‹ Das Dumme war nur, dass ich und all die anderen Ermittler, die an dem Fall gearbeitet haben, ohne Zeugen und ohne Leiche ziemlich aufgeschmissen waren. Und als drei Jahre später ein Jäger die Knochen im Wald entdeckte, ging natürlich wieder die Angst um.«
»Und gab es Verdächtige?«, fragte sie und setzte alles daran, beiläufig zu klingen.
»Es fiel der eine oder andere Name. Diejenigen, die mit dem Schulweg des Mädchens vertraut waren, haben wir uns genauer angesehen. Aber für eine Anklage hat es nie gereicht.«
»Und inzwischen?«
»Schmort der Fall in den Akten.«
Mrs. Böser Wolf fröstelte, als sie den Hörer auflegte. Sie versuchte, sich Notizen zu machen, doch es kostete sie Mühe. Alles, was der Polizist erzählt hatte, flößte ihr noch mehr Angst ein, auch wenn sie sich fragte, wieso.
Der Böse Wolf fuhr langsam am Haus vorbei und spähte verstohlen zu den Fenstern hinüber, um einen kurzen Blick auf Rote Zwei zu erhaschen. Er hatte kein Glück. Er trat aufs Gas und fuhr um die Ecke.
Nur noch ein Mal, sagte er sich. Vielleicht klappt es dann.
Er wusste, dass er sich zusammenreißen musste. Ein Wagen, der mehr als zwei Mal vorbeifuhr, fiel ganz bestimmt auf. Zwei Mal war das Äußerste. Das sah so aus, als hätte er eine Hausnummer verpasst und führe die Straße noch einmal ab. Alles darüber hinaus konnte Verdacht erregen. Er verzog das Gesicht und rollte noch einmal langsam an ihrem Haus vorbei. Er merkte, wie sein Herz höherschlug und ihm der Schweiß in den Achseln stand. Er hätte laut lachen können. Wie ein hoffnungslos verknallter Teenager, musste er denken, während er im Schneckentempo dahinkroch und nur dunkle Fenster sah.
Rote Zwei saß an ihrem Küchentisch. Sie hatte ein Blatt rosa geblümtes Briefpapier vor sich und hielt einen Füllfederhalter zwischen den Fingern.
Die Nacht kroch allmählich von draußen herein, doch sie stand nicht auf,
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