Der Wolf
um Licht zu machen, sondern arbeitete lieber im Halbdunkel weiter.
Sarah wählte jedes Wort, das sie zu Papier brachte, mit größter Sorgfalt.
Wenn du zum allerletzten Mal schreibst, verleihe deiner Botschaft Gewicht.
Die Seite füllte sich langsam. Traurige Worte über ihren Mann. Qualvolle Worte über ihr Kind und über die unerträgliche Trauer um beide.
All die wütenden Worte über den Mann, der sie töten und den sie hereinlegen wollte, behielt sie dagegen zurück.
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27
R ote Eins hielt eine sehr kurze Liste in der Hand.
Tu dies. Dann tu das.
Einen Moment überwog bei Karen die Skepsis, und sie wagte nicht zu hoffen, dass irgendetwas von dem, was sie geplant hatte, funktionieren konnte, dann wieder war sie voller Zuversicht, dass ihre Rechnung aufgehen würde. Sie war zwischen Zweifel und Hoffnung hin und her geworfen wie ein Querschläger, der von glatten Stahlflächen abprallt.
Sie saß am Steuer eines Leihwagens, eines unauffälligen grauen, viertürigen Chevrolet, den ihre Assistentin am Vormittag in ihrem Auftrag besorgt hatte. Dann hatte sie mit der jungen Frau die Autoschlüssel getauscht und sie gebeten, mit Karens eigenem Wagen eine Erledigung zu übernehmen, die sie sich aus den Rippen gesogen hatte.
Die Assistentin hatte ein wenig gestaunt, vor allem als Karen sie in ihren eigenen Mantel steckte und ihr eine Strickmütze über die blonden Haare zog. Karen war erleichtert, dass die junge Frau mitgespielt hatte. Krankenschwestern waren es gewohnt, die Anweisungen von Ärzten zu befolgen, egal wie exzentrisch, dämlich oder unverständlich sie erscheinen mochten. Die Mitarbeiterin hatte sich mit der Erklärung zufriedengegeben: »Ich glaube, dieser Kerl, dem ich gerade den Laufpass gegeben habe, beobachtet mich, und ich möchte eine unschöne Auseinandersetzung vermeiden.« Da die Schwester mit ihrer eigenen einschlägigen Erfahrung, immer wieder an die falschen Männer zu geraten, dieses Problem mühelos einordnen konnte, dachte sie nicht lange über den bizarren Auftrag nach. So war sie bereitwillig mit Karens Wagen in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen und hatte ihrer Chefin Gelegenheit gegeben, hoffentlich unerkannt die Praxis zu verlassen. Karen war sich darüber klargeworden, dass sie sich inzwischen fast immer vom Bösen Wolf beobachtet fühlte, und zwar unabhängig von Ort und Zeit. Längst schrieb sie ihm übermenschliche Fähigkeiten zu: Er kam ohne Schlaf, Essen und Trinken aus. Er konnte sich unsichtbar machen oder wie ein Falke auf der Jagd nach Beute aus der Luft herabstürzen. Als Wolf konnte er mit dem zartesten Lufthauch ihre Witterung aufnehmen.
Allerdings hoffte sie, dass er an diesem Abend einer falschen Fährte folgen würde.
Sie blickte durch die beschlagenen Fenster und redete sich gut zu: Du bist allein.
Der Leihwagen parkte an einer dunklen, abgelegenen Straße nicht weit von einer Reihe halbverfallener Lagerhallen, die früher einmal kleinere Fabriken und Gewerbebetriebe untergebracht hatten. Jetzt waren die Fenster mit Brettern vernagelt, die Türen mit rostigem Maschen- und Stacheldraht gesichert, an riesigen Wandflächen prangten Graffiti. Seit fast einer halben Stunde war kein anderes Fahrzeug an ihr vorbeigekommen, und niemand war den rissigen, zerbröselnden Bürgersteig entlanggelaufen. Es war ein trostloser, einsamer und verlassener Teil der kleinen Stadt – besonders bei einsetzender Dunkelheit wenig vertrauenerweckend. Der verblasste rote Ziegelstein der angrenzenden Gebäude war verdreckt, und an diesem Abend prasselte auch noch der kalte Regen gnadenlos auf den Schotter. Das gesamte Terrain empfahl sich als Schauplatz für einen Hollywoodmord. Das gelbliche Licht einer Straßenlaterne richtete wenig gegen die Düsternis aus.
Karen stand an einer unsäglich einsamen und heruntergekommenen Stelle, an der, so schien es, eine Krankheit alles Leben ausgelöscht hatte. Von einem solchen Ort war nichts Gutes zu erwarten.
Doch für ihre Aufgabe war er perfekt.
Sie sah auf die Uhr. Kurz erfasste sie eine namenlose Traurigkeit.
Auch wenn sie den Gedanken
In diesem Moment passiert es
verdrängte, merkte sie doch, wie sich ihr Puls beschleunigte.
Sarah fuhr in eine Bushaltestelle und sorgte dafür, dass sie sich im Parkverbot befand.
Eine Sekunde schloss sie die Augen. Sie hatte Angst aus dem Fenster zu sehen. Es war das erste und einzige Mal, dass sie zu der Kreuzung fuhr, die ihr Leben binnen Sekunden zunichtegemacht
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