Der Wolf
für jede Rote empfand.
So wie ich es kaum erwarten kann, sie zu töten, werden sie dem Augenblick entgegenfiebern, in dem sie erfahren, wie sie sterben. Sie werden neben mir stehen wollen, um ihn genauso zu erleben wie ich.
Der Mord würde ihn reich machen, auf vielfältige Weise, dachte er. Er spürte, wie ihn eine Woge der Energie durchströmte. Herrschte draußen nicht so trostloses, nasskaltes Wetter, dachte er, hätte ich wahrscheinlich ein paar alte Laufschuhe und einen Trainingsanzug hervorgekramt und wäre joggen gegangen. Schon seit Jahren hatte er keinen Sport mehr getrieben, doch auf einmal hatte er das Bedürfnis danach. Dann musste er laut lachen.
»Das ist es nicht«, sagte er laut.
Es ist die Nähe. Du bist ganz kurz davor, etwas Großes zu vollbringen.
In diesem Moment fühlte er sich nicht mehr alt, nicht mehr verkannt.
Er spürte eine unbändige Kraft.
Der Böse Wolf sah auf die Uhr. Seine Frau käme bald heim. Dann würden sie wie gewohnt zu Abend essen. Dann wie gewohnt fernsehen. Dann wie gewohnt ins Bett.
Er rechnete nach: gerade genug Zeit, um kurz vorbeizufahren, dachte er. Aber wem soll ich einen kleinen Besuch abstatten? Rote Drei war keine gute Wahl, da er nicht seiner Frau auf dem Heimweg begegnen wollte. Sie würde ihn fragen, wieso er am Feierabend in die falsche Richtung fuhr. Rote Eins war vermutlich noch nicht mit der Sprechstunde fertig. An manchen Wochentagen arbeitete sie bis in die Abendstunden, und heute war so ein Tag.
Sie ist viel zu gewissenhaft, selbst so kurz vor ihrem Tod.
Er hatte keine Lust, vor der Praxis herumzuhängen, nur um sie für einen Moment vorbeifahren zu sehen.
Der Böse Wolf lächelte. Dann also Rote Zwei. Er wusste, dass sie am wenigsten mobil war, da ihre Emotionen sie lähmten und ans Haus fesselten.
Armes Mädchen, dachte er. Wahrscheinlich wird sie den Tod mehr als die anderen willkommen heißen.
Er fuhr seinen Computer herunter, verließ das Arbeitszimmer und suchte nach seinem Anorak.
Wahrscheinlich wird sie mir sogar dankbar sein, wenn wir unser spezielles kleines Rendezvous haben.
Eigentlich war Büroschluss und Zeit zu gehen, doch Mrs. Böser Wolf zögerte ihren Aufbruch hinaus. Sie hatte viel und zugleich wenig herausgefunden. Die Fakten, die sie zusammengetragen hatte, konnten, wenn sie nicht auf der Hut war, zu Trugschlüssen und weiteren Phantastereien verleiten. Vor Zweifeln und Verwirrung krampfte sich ihr der Magen zusammen.
Wenn ich nur diese eine eindeutige Tatsache wüsste! Wenn ich absolute Gewissheit haben könnte, so oder so: Ist er ein Mörder? Oder ist er nur ein Schriftsteller, der seine Ideen dem wahren Leben entlehnt? So wie jeder andere Schriftsteller auch.
Sie sah zur Wanduhr auf, als böte die Zeit den einzigen zuverlässigen Bezugsrahmen in ihrer Situation.
Dann griff sie zum Telefon. Sie hatte sich einen Namen aus einem Zeitungsartikel notiert und im Internet schnell die passende Nummer dazu gefunden. Als sie die Zahlenfolge eintippte, zitterten ihre Finger nur leicht.
»Kripozentrale«, meldete sich eine forsche Stimme.
»Ah. Guten Abend. Ich würde gerne mit einem Detective Martin Young sprechen«, antwortete Mrs. Böser Wolf ein wenig hastig.
»Geht es um einen Notfall?«
»Nein, um einen alten Fall, in dem er ermittelt hat.«
»Zu dem Sie Informationen haben?«
»Ja, richtig.«
Das war gelogen. In Wahrheit hoffte sie ihrerseits auf Informationen.
»Detective Young müsste im Lauf der nächsten halben Stunde eintreffen. Er hat diese Woche Abendschicht. Soll ich ihn bitten, Sie anzurufen?«
»Hat er auch eine Durchwahl?«
»Ich geb Ihnen die Nummer. Ich würde vorsichtshalber eine Dreiviertelstunde warten.«
Mrs. Böser Wolf notierte sich die Nummer und wartete.
Sie starrte weiter auf die Uhr. Eigentlich war sie immer davon ausgegangen, dass die Zeit langsamer verging, wenn man verfolgte, wie der Sekundenzeiger auf dem Ziffernblatt kreiste. Zu ihrer Überraschung war das Gegenteil der Fall. Ihr geisterten wirre Gedanken und beunruhigende Bilder durch den Kopf. Die Minuten vergingen wie im Flug. Sie tippte die Durchwahl ins Telefon.
Diesmal meldete sich eine andere, etwas barsche Stimme.
»Detective Martin Young.«
»Guten Abend«, sagte Mrs. Böser Wolf. »Mein Name ist Jones«, log sie. »Ich bin Lehrerin an einer Privatschule hier in Neuengland.« Immerhin teilweise korrekt.
»Und was kann ich für Sie tun?«
Mrs. Böser Wolf holte einmal tief Luft und ließ die Geschichte vom
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