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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sollen, stattdessen ging es um Worte.
    »Nur ein bisschen«, sagte sie. »Vielleicht ein, zwei Seiten.«
    »Mehr nicht?«
    »Nein.« Auch wenn Mrs. Böser Wolf wusste, dass es die Wahrheit war, hatte sie das Gefühl zu lügen.
    »Demnach weißt du natürlich nicht, worum es in dem Buch geht, nicht wahr? Oder was ich in welchem Zusammenhang zu erreichen versuche. Wenn ich dich nach der Handlung oder den Figuren oder dem Stil fragen würde, müsstest du passen, oder?«
    Mrs. Böser Wolf zuckte die Achseln. Ihr war zum Heulen zumute. »Es geht ums Töten.«
    »In all meinen Büchern geht es ums Töten. Das ist bei Krimi- und Thrillerautoren nun mal so. Ich dachte, du magst meine Bücher.«
    Diese Bemerkung, die Kritik, die darin mitschwang, saß. »Natürlich mag ich sie, das weißt du doch«, antwortete sie. Es klang wie eine flehentliche Bitte. Eigentlich wollte sie sagen: Deine Bücher haben uns zusammengebracht. Diese Bücher haben mir das Leben gerettet.
    »Aber du hast nur – wie viel sagtest du? – ein paar Seiten gelesen. Und du meinst, du weißt, was in dem Buch steht?«
    »Nein, nein, natürlich nicht.«
    »Dir ist schon klar, dass dieses Manuskript mehrere hundert Seiten umfasst, die du
nicht
gelesen hast?«
    »Ja.«
    »Nur mal angenommen, du schnappst dir einen Spionageroman von, sagen wir, John le Carré und liest darin irgendwo mittendrin zwei, drei Seiten, meinst du, dass du mir danach sagen kannst, worum es in dem Buch geht?«
    »Nein.«
    »Weißt du überhaupt, ob mein Buch in der ersten oder der dritten Person geschrieben ist?«
    »Offenbar in der ersten Person. Du hast über Mord gesprochen …«
    »Ich oder meine Figur?«, fiel er ihr ins Wort.
    Wieder war ihr zum Weinen. Am liebsten hätte sie losgeschluchzt und sich auf dem Boden gewälzt, weil sie die Antwort nicht wusste. Ein Teil von ihr fürchtete
du,
ein anderer flehte
deine Figur.
    »Ich weiß es nicht«, war alles, was sie wimmernd über die Lippen brachte.
    »Vertraust du mir nicht?«, fragte er.
    Jetzt standen Mrs. Böser Wolf die Tränen in den Augen.
    »Natürlich vertraue ich dir«, sagte sie.
    »Und liebst du mich nicht?«
    »Ja, ja«, schluchzte sie, »das weißt du doch …«
    »Dann sehe ich nicht, wo das Problem liegt«, sagte er.
    Mrs. Böser Wolf schwirrte der Kopf. Es lief völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
    »Die Bilder an der Wand. Die Tabellen, Termine, Grafiken. Und dann diese Worte, die ich gelesen habe …«
    Er lächelte nachsichtig. »Da hast du zwei und zwei zusammengezählt, und es gab nur noch eine Erklärung …«
    Sie nickte stumm.
    »… dabei könnte es auch vollkommen anders sein«, schloss er seine Bemerkung ab.
    Sie nickte heftig.
    »Alles, was du gesehen hast«, fuhr er in einem Ton fort, als hätte er ein unverständiges Kind vor sich, »das alles hat dir Angst gemacht, stimmt’s?«
    »Ja.«
    Er lehnte sich im Sessel zurück. »Aber ich bin Schriftsteller«, sagte er und setzte ein breites Grinsen auf. »Und manchmal schöpft man ein bisschen aus der Realität, um die Phantasie zu beflügeln. Man erfindet etwas, das so aussieht, als passierte es direkt vor den eigenen Augen – zum Greifen nahe. So läuft das beim Schreiben, kannst du das nicht nachvollziehen?«
    Wieder glaubte sie, kaum noch Luft zu bekommen. »Ich denke schon«, sagte Mrs. Böser Wolf, als kostete sie jedes Wort große Mühe. Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich würde nur zu gerne glauben …«, fing sie an, verstummte jedoch sofort. Dann holte sie noch einmal Luft. Sie hatte das Gefühl, als drücke sie jemand unter Wasser.
    »Denk doch nur mal an die großen Schriftsteller, Hemingway, Faulkner, Dostojewski, Dickens … oder die zeitgenössischen Autoren, die wir ganz gerne lesen, Grisham und Connolly und Thomas Harris. Meinst du, die hätten es anders gehalten?«
    »Nein«, erwiderte sie unsicher.
    »Ich meine, wie erfindest du einen Raskolnikow oder auch einen Hannibal Lecter, wenn du dich nicht mit Haut und Haaren in die Figur hineinversetzt? Wie sie denkt. Wie sie handelt. Bis sie ein Teil von dir wird.«
    Der Böse Wolf schien keine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Seine Frau wusste überhaupt nicht mehr, was sie von alledem halten sollte. Was so offensichtlich erschienen war und ihr einen solchen Schock versetzt hatte, als sie sich heimlich Zugang zu seinem Büro verschaffte, konnte man ganz anders verstehen. War sie, als sie in seinem Manuskript las, bereits

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