Der Wolf
mich auch gewundert. Hätte ich dir gleich sagen können. Weißt du, dass du wahrscheinlich mit demselben Detective gesprochen hast, mit dem ich mich seinerzeit unterhalten habe, damals, als ich das Buch schrieb?«
Auf den Gedanken war Mrs. Böser Wolf nicht gekommen.
»Erinnerst du dich nicht? In meinem Buch geht das Mädchen in die achte Klasse. Sie ist blond und kommt aus einem zerrütteten Elternhaus.« Jetzt dozierte der Böse Wolf wie ein Lehrer vor einer Klasse mit besonders begriffsstutzigen Kindern. »Aber sieh mal, auf dem Foto hier ist das Opfer älter und dunkelhaarig und stammt aus einer Großfamilie.«
Mrs. Böser Wolf lief ein Schauder den Rücken herunter.
Natürlich. Wie konnte dir das entgehen! Es ist doch alles anders!
Der Böse Wolf verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich dachte, wir hätten uns immer vertraut«, sagte er. »Als du krank warst, hast du mir da nicht vertraut, dass ich dir helfe und mich um dich kümmere?«
»Doch«, murmelte sie.
»Ist zwischen uns nicht vom allerersten Tag an, seit wir uns begegnet sind, wie soll ich sagen, etwas ganz Besonderes gewesen?«
»Ja, ja, ja«, bestätigte sie in schuldbewusstem Ton.
»Wir sind immer Partner gewesen, oder? Wie lautet noch mal dieses alberne Wort, das die Leute heutzutage benutzen? Seelenverwandte, richtig. In dem Moment, in dem wir uns begegnet sind, hast du gewusst, dass du für mich auf diese Welt gekommen bist, und ich wusste, dass ich für dich hier bin …«
Mrs. Böser Wolf konnte gar nicht oft genug leise und aus tiefstem Herzen
ja
sagen.
Der Böse Wolf lächelte.
»Dann versteh ich das Ganze nicht«, sagte er. »Was macht dir dann solche Angst?«
»Die anderen …«, stammelte sie.
»Was für andere?«
»Bevor wir geheiratet haben, bevor wir uns begegnet sind.«
»Andere Frauen?«
»Nein …«
»Was denn?«
Er sprach in samtweichem Ton. Die Worte schienen wie eine Wolke zwischen ihnen zu schweben.
»Die Frauen in den Zeitungsartikeln.«
»Ach so, was soll mit denen sein?«
»Hast du sie getötet und dann über sie geschrieben?«
Der Böse Wolf antwortete nicht gleich. Er deutete auf das Sofa und forderte seine Frau mit einer freundlichen Geste auf, ihren gewohnten Platz einzunehmen. Sie erfüllte ihm den Wunsch und ließ die Frage wie fernes Donnergrollen, das sich unter prasselndem Regen allmählich verzieht, im Raum widerhallen. Während sie sich steif auf der Couch niederließ, machte es sich der Böse Wolf in dem Sessel bequem, in dem er gewöhnlich die Abende verbrachte. Er lehnte sich entspannt zurück, warf jedoch einen Blick zur Decke, als hoffte er auf eine Eingebung von oben.
»Ist es nicht sinnvoll, darüber zu lesen und dann darüber zu schreiben?«, fragte er schließlich und senkte den Blick, um ihr in die Augen zu sehen.
Mrs. Böser Wolf versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, indem sie die Tage, an denen die Opfer gestorben waren, mit den Publikationsdaten zu den Büchern ihres Mannes verglich und dabei die Zeit mit einkalkulierte, die er jeweils fürs Schreiben brauchte. Sämtliche mathematischen Größen hatte sie erfasst, und so verstand sie nicht, wie Zahlen und Fakten, die sie sich klar ins Gedächtnis eingeprägt hatte, plötzlich bis zur Unkenntlichkeit verblassten.
»Glaubst du wirklich, ich hätte jemanden ermordet? Egal wen? Traust du mir so was zu?«
Sie war sich nicht sicher. Eine Stimme in ihr sagte ja, eine andere wehrte sich entschieden. Sie merkte nicht, wie sie auf dem Sofa unwillkürlich nach vorne rutschte, so dass sie nur noch auf der Kante hockte und beinahe herunterfiel. Ihr war übel, schwindelig, und im ganzen Körper durchzuckten sie scheinbar grundlose Schmerzen. Ihr Herz raste, sie spürte den heftigen Druck in der Brust, und ein Schraubstock drückte ihr die Schläfen zusammen. Sie hatte Durst, ihre Kehle war wie ausgedörrt, und in diesem Moment kam ihr der Gedanke: Was ist, wenn er mir die Wahrheit sagt? Muss er dann nicht auch mich umbringen?
Vielleicht wäre es das Beste.
»Natürlich nicht«, sagte sie.
Der Böse Wolf betrachtete seine Frau jetzt mit einem sanfteren Blick, so wie ein Kind vielleicht ein Katzenjunges. In seinem Kopf arbeitete es heftig. Einerseits gratulierte er sich dazu, wie geschickt er das Gespräch gelenkt hatte, andererseits war er schon mit neuen Plänen beschäftigt. Auch wenn er den Zeitpunkt nicht vorhergesehen hatte, so war ihm immer klar gewesen, dass seine Frau ihm einmal auf die Schliche kommen musste. Wenn er
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