Der Wolf
misstrauisch gewesen oder ahnungslos und naiv? Plötzlich erinnerte sie sich, wie sie in einer nüchtern und steril eingerichteten Arztpraxis gesessen und einen Vortrag über komplizierte Behandlungspläne über sich ergehen lassen hatte, in Wahrheit aber nur begriffen hatte, wie gering die Überlebenschancen waren. Die Unterhaltung mit ihrem Mann weckte ähnliche Gefühle in ihr. Sie nahm nur die Dinge wahr, die sie beruhigten, auch wenn mit jedem Wort alles noch komplizierter wurde. Während Mrs. Böser Wolf nach jedem Strohhalm griff, kreischte in ihr eine Stimme so laut und unerbittlich, dass sie schließlich nachgab und ohne Umschweife fragte: »Hast du schon mal jemanden getötet?«
Sie wünschte, sie hätte diese Frage mit größerem Nachdruck, in forderndem Ton gestellt, wie jemand, der in seiner Empörung das Recht hat, die Wahrheit zu erfahren, doch sie merkte, wie ihre Entschlusskraft dahinschmolz. An der Schule war es so einfach, gegenüber all den albernen Bitten verwöhnter, egoistischer Teenager aus betuchtem Elternhaus streng und unnachgiebig zu sein. Da fiel es ihr leicht, hart zu bleiben, doch das hier war etwas anderes.
»Glaubst du, dass ich jemanden umgebracht habe?«, fragte er. Jedes Mal, wenn sie ihm eine Frage stellte und er den Spieß herumdrehte, wurde sie schwach. Es war wie in einem Spiegelkabinett, in dem ihr Körper vor ihren Augen mal dick und fett wirkte und dann wieder dünn und langgezogen, und sie zwar wusste, dass sie in Wahrheit nicht so aussah, aber Angst hatte, dieses missgestaltete, monsterhafte Zerrbild nie mehr loszuwerden. Schwankend stand Mrs. Böser Wolf auf, ging zu ihrer Tasche hinüber und zog ein paar Bündel Papiere heraus – sämtliche Tabellen und Ausdrucke ihrer Internetrecherche. Mit zitternder Hand hielt sie sich die Ausbeute des Tages vor Augen und war plötzlich verwirrt. Bevor sie das Büro verlassen hatte, hatte sie alles sortiert – nach Uhrzeit und Datum sowie den jeweiligen Informationen, als ob diese Erkenntnisse für sich genommen irgendetwas bewiesen. Doch jetzt hatte Mrs. Böser Wolf plötzlich das Gefühl, als wären sie durch Zauberhand völlig durcheinandergewirbelt, ohne jeden logischen Zusammenhang.
»Was hast du da?«, fragte der Böse Wolf abrupt. Wieder war sein Ton eine Spur gereizt.
»Wozu hast du Zeitungsausschnitte von diesen Verbrechen aufbewahrt?«, stellte sie ihm eine naheliegende Frage, die hoffentlich Klarheit bringen würde.
»Recherchen«, antwortete er prompt. »Meine Romane basieren auf wahren Begebenheiten«, fuhr er fort, indem er jedes Wort einzeln betonte. »Ich habe Zeitungsausschnitte aufgehoben. Als Erinnerungsstütze für Methoden, die funktionieren.«
Er sah sie durchdringend an. »Du hast also nicht nur in meinem neuen Buch gelesen, sondern dir auch meine persönlichen Alben angesehen.«
Sie kam sich vor wie im Kreuzverhör. Da sie das Wort
ja
nicht über die Lippen brachte, nickte sie stattdessen.
»Was noch?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
Er wiederholte seine Frage: »Was noch?«
»Sonst nichts«, krächzte sie leise.
»Aber das ist noch nicht alles, oder?«
Jetzt ließ sie den verzweifelten Tränen, die ihr auf den Wangen brannten, freien Lauf.
»Ich habe versucht, etwas darüber rauszukriegen«, brachte sie im Flüsterton heraus.
Worüber, verstand sich von selbst.
»Herauszufinden? Wie?«
»Ich hab einen Detective angerufen, der in diesem Fall ermittelt hat.«
Sie reichte ihm einen der Zeitungsausschnitte über jenes junge Mädchen, das auf dem Heimweg von der Schule verschwunden war. In platter Journalistensprache war darin die unsägliche Schreckenstat beschrieben. Dieser Fall war schlimmer als der schlimmste Alptraum, und Mrs. Böser Wolf zuckte ein wenig zurück, als sie versehentlich die Hand ihres Mannes berührte. Sie war wie gefangen zwischen der distanzierenden Zeitungsmeldung und der schrecklichen Wahrheit über die letzten Minuten des vermissten Mädchens. Mrs. Böser Wolf beobachtete ihren Mann, während er den Artikel überflog. Sie rechnete jeden Moment damit, dass er in selbstgerechte Wut ausbrach, auch wenn sie streng genommen keinen Grund dafür sah. Oder für sonst eine Reaktion.
Der Böse Wolf blätterte ihre Ausdrucke durch und zuckte die Achseln. Dann gab er sie seiner Frau zurück.
»Und was hat er dir gesagt?«
»Nicht viel. Es ist ein ungelöster Fall, den sie längst zu den Akten gelegt haben. Er rechnet nicht mehr mit einem Durchbruch.«
»Hätte
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