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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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normalisieren schien. Er hatte nichts dagegen, den Trainer auf der Brücke im Nieselregen warten zu lassen, und seiner Erfahrung nach kannte sich niemand so gut mit Schocks aus wie die Rettungssanitäter.
    »Danke«, sagte Jordan. Ihre Stimme klang schon ein wenig fester. »Aber es geht schon wieder. Ich möchte nur ins Wohnheim.«
    Der Polizist zuckte die Achseln. Er konnte nie ganz verhindern, dass er ein Ereignis, bei dem ein junger Mensch mit traumatischen Eindrücken konfrontiert war, mit den Augen seiner eigenen Kinder sah, doch im Lauf der Jahre als Cop hatte er sich ein dickes Fell und eine rauhe Schale zugelegt. Er hatte seine Zeugenaussagen in der Tasche, die Telefonnummern aller Insassen des Busses notiert und die Streifenpolizisten angewiesen, die fruchtlose Suche im weiteren Umkreis fortzusetzen.
    Fürs Erste hatte er getan, was er konnte.
    Der Sergeant sah, dass der Trainer auf seinem Handy eine Nummer eintippte. »Wen rufen Sie an?«, fragte er in gebieterischem Ton.
    »Die Schulleitung«, antwortete der Trainer. »Die werden sich wundern, wo wir bleiben. Müssen den Speisesaal länger geöffnet halten. Und dafür sorgen, dass Jordan einen Ansprechpartner hat.«
    Vermutlich, dachte der Polizist, will er vor allem sicherstellen, dass er für die Verspätung nicht verantwortlich gemacht wird. »Also«, sagte er, »Sie können nach Hause fahren. Sollten wir noch Fragen haben, meldet sich jemand von uns.«
    »Wenn Sie mit einer der Schülerinnen sprechen wollen, müssen Sie sich an das Büro des Direktors wenden«, sagte der Trainer.
    »Ach ja?«, fragte der Polizist. Er verkniff sich den Zusatz,
einen Teufel werden wir tun,
sondern beschränkte sich auf einen beißend ironischen Ton.
    Dann sah er zu, wie die Mannschaft wieder in den Kleinbus stieg. Bei einigen der Schülerinnen hatte sich die Aufregung noch nicht gelegt, und sie hielten einander die Hand oder umarmten sich. Dabei entging ihm nicht, dass niemand Jordan den Arm um die Schulter legte, um sie zu trösten, und er hoffte, dass sich seine eigenen Töchter in einer solchen Situation feinfühliger verhalten würden.
    Der Polizist bemerkte auch, dass Jordan zur hintersten Sitzreihe ging und dort alleine saß. Er winkte ihr noch einmal freundlich zu, was nicht sehr professionell war, aber seinem spontanen Bedürfnis entsprach. Er freute sich, als ein scheues Lächeln über Jordans Gesicht huschte und sie zurückwinkte.
    Kinder können verdammt grausam sein, dachte er. Zwar wären seine eigenen Töchter längst im Bett, wenn er nach Hause kam, doch er nahm sich vor, bei ihnen vorbeizuschauen und wenigstens ein paar Minuten ihre schlafenden Gesichter zu betrachten. Seine Frau würde ihn verstehen, ohne Fragen zu stellen.
     
    Erst am nächsten Morgen bekamen die Detectives, die mit den weiteren Ermittlungen zu dem Selbstmord betraut waren, einen Anruf von zwei Angestellten der örtlichen Kfz-Zulassungsstelle. Sie hatten an der Bushaltestelle gewartet und an dem Baumstamm den Brief von Rote Zwei entdeckt; sie waren der Bitte auf dem Umschlag gefolgt und hatten sich bei der Polizei gemeldet. Sie waren so klug, nichts anzurühren, und so pflichtbewusst zu warten, bis ein Detective eintraf und den Brief mitsamt dem Foto in Empfang nahm, auch wenn sie dadurch zu spät zur Arbeit kamen.
     
    Mehr oder weniger zur gleichen Zeit saß Rote Eins einer Frau gegenüber, die kaum jünger war als sie, dafür doppelt so schwer. Die Frau trug kurzgeschnittenes Haar, hatte mächtige Arme und den passenden Leibesumfang. Ein Ohr war von mindestens sechs, sieben Ringen gespickt, während unter ihrer Bluse ein Tattoo herauslugte. Die Frau erweckte den Eindruck, dass sie mit einer Harley-Davidson zur Arbeit fuhr und sich als Freizeitvergnügen mit Holzfällern im Armdrücken maß und dabei nur selten unterlag. Umso erstaunlicher fand Karen den angenehm weichen Ton, in dem sie sprach.
    »Wir können Folgendes tun«, sagte die Frau. »Wir können Ihre Freundin beschützen. Wir können auch ihre Kinder beschützen. Wir können ihnen einen sicheren Ort für den Übergang in ein neues Leben bieten. Wir können ihnen in der ersten Zeit in Fragen der Sozialfürsorge und in juristischen Angelegenheiten helfen. Außerdem können wir ihnen allen mit Therapeuten zur Seite stehen – einige wirklich hochgeschätzte Psychiater in der Stadt helfen hier ehrenamtlich mit. Wir können ihnen, kurz gesagt, zu einem Neustart verhelfen.«
    »Tatsächlich?«, hakte Karen nach, da sie am Ende

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