Der Wolf
versuchte, eine vernünftige Beschreibung der Person zu bekommen, die sich vor den Augen des Mädchens von der Brücke gestürzt hatte, doch mehr als »eine Frau mit irrem Blick, die wild mit den Armen herumfuchtelte, dunkel gekleidet, Mantel, Mütze, mittelgroß, vielleicht Mitte dreißig« war aus Jordan nicht herauszuholen.
Der Polizist befragte auch den Trainer, den Assistenten und die übrigen Spielerinnen; doch niemand hatte etwas von dem mitbekommen, was Jordan beobachtet hatte. Sie alle hatten einleuchtende Erklärungen dafür, dass ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen gegolten hatte.
Der Sergeant erbot sich, einen Krankenwagen zu rufen, da er fürchtete, dass Jordan, die immer noch abwechselnd in Tränen ausbrach und zu einer ausdruckslosen Miene erstarrte, einen Schock erlitten hatte. Tatsächlich war der Polizist davon überzeugt, dass die heftige Reaktion des jungen Mädchens der sicherste Beweis dafür war, dass tatsächlich jemand von der Brücke gesprungen war. Wenn die nicht wirklich was gesehen hat, dann hol mich der Teufel, dachte er.
Von den Kollegen, die mit einem halben Dutzend Streifenwagen quer über die Brücke verteilt waren, hatte niemand etwas Hilfreiches beizusteuern. Die blau-rot flackernden Lampen an den Fahrzeugen spiegelten sich im feuchten Asphalt und erschwerten die Arbeit der Polizisten, die den schmalen Fußgängerstreifen nach Beweisstücken absuchten. Bei genauem Hinsehen fanden sie immerhin ein paar spärliche Indizien für den Selbstmord: Dort, wo der Fußweg über die Brücke begann, entdeckten die Beamten den lehmigen Abdruck eines Laufschuhs in Frauengröße, und an der Stelle, an der die Unbekannte sich laut Jordans Aussage über die Brüstung gestürzt hatte, zeigten sich Schleifspuren. Dabei überraschte es die Polizisten nicht, dass es bei diesen spärlichen Indizien blieb. Nicht zum ersten Mal wurde der Sergeant wegen einer Selbstmordmeldung zu dieser Brücke gerufen. Sie war eine beliebte Stelle. Zwischen den heruntergekommenen, ehemaligen Textilfabriken hatte der Drogenhandel die Arbeitsplätze in den Betrieben ersetzt. Wie die meisten Anwohner wusste er, dass die starke Strömung eine Leiche bis zum Klärwerk spülen, vielleicht sogar darüber hinaus an den Wasserfällen dahinter in die Tiefe reißen würde. In diesem wilden Gewässer konnte ein Toter in kurzer Zeit meilenweit den Fluss hinuntertreiben oder aber auch an Strandgut und Geröll hängenbleiben, von dem das Flussbett übersät war. Zuweilen hatte es Wochen gedauert, die Leichen der Selbstmörder zu bergen, die sich an dieser Stelle hinabgestürzt hatten, und nicht wenige waren verschollen geblieben.
Im Kopf verfasste er schon seinen Bericht, den er den Detectives der Frühschicht hinterlegen würde. Alles Weitere fiel in deren Zuständigkeit:
Findet ihren Namen heraus. Verständigt die nächsten Angehörigen.
Die Tatsache, dass keine stichhaltigen Beweise vorlagen, war für den Polizisten kein Grund, an dem Vorfall zu zweifeln. Seinen Teil erledigen und den Fall abhaken, mehr hatte der Sergeant nicht im Sinn. Polizeitaucher und ein Boot würden bis zum Morgengrauen warten und dann die Suche nach der Leiche aufnehmen. Sie werden von diesem Auftrag nicht gerade begeistert sein, dachte er. Es war eine gefährliche Arbeit in diesem schwarzen, strudelnden Gebräu, und höchstwahrscheinlich vergeblich.
Erfahrungsgemäß war es wahrscheinlicher, dass die Leiche zufällig irgendwo auftauchte. Vielleicht ginge sie im Sommer einem Fischer ins Netz, der sich über diesen besonderen Fang nicht freuen dürfte.
Er legte Jordan eine Hand auf die Schulter.
»Soll ich einen Krankenwagen holen? Vielleicht reden Sie mal mit den Sanitätern?«, fragte er sie freundlich und wechselte vom professionellen in den väterlichen Ton.
Jordan schüttelte den Kopf. »Geht schon«, antwortete sie.
»Wir haben am Internat psychologisch geschultes Personal«, mischte sich ihr Trainer ein. »Das für sie da ist, falls sie Hilfe braucht. Traumaspezialisten.«
Der Polizist nickte langsam. Die Bemerkung klang überheblich. »Bestimmt?«, fragte er noch einmal, an Jordan gewandt, nicht an den Trainer. Er mochte den Mann nicht, den der Vorfall ein wenig verärgert zu haben schien –
musste sich diese Frau auch ausgerechnet in dem Moment das Leben nehmen, da wir vorbeikommen?
»Es wäre nur ein kurzer Anruf«, versicherte der Sergeant Jordan, die sich mit dem Handrücken die Tränen abwischte und deren hechelnder Atem sich zu
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