Der Wolf
ändern.
Eine Schwierigkeit lag auf der Hand:
Wenn Rote Eins durch den Medienzirkus erfährt, dass eine andere Rothaarige ermordet wurde, könnte sie auf den Gedanken kommen, dass auch für sie das letzte Stündlein geschlagen hat.
Der Zeitraum zwischen den Morden ist ein echtes Dilemma.
Folglich muss es so aussehen, als wäre Rote Drei nicht tot, sondern als nähme sie nur unentschuldigt nicht am Schulalltag teil. Am Unterricht. Am Basketball. An den Mahlzeiten in der Kantine. Dabei wird sie zu diesem Zeitpunkt definitiv außerstande sein, sich dafür zu entschuldigen, dass sie nicht mehr am Leben teilnimmt.
Er griff zu Strunk und White auf seinem Schreibtisch.
Sie brechen immer eine Lanze für einen einfachen, direkten Zugang. Dasselbe gilt fürs Töten.
Der Böse Wolf wandte sich wieder seinem Computer zu.
Rote Drei wird Tag für Tag schöner. Jetzt, da sie zur erwachsenen Frau heranreift, wird ihr Körper immer ranker und geschmeidiger. Sie hat am allermeisten zu verlieren.
Bei Rote Eins ist es das Gegenteil. Sie scheint, wenn auch nur für den geschärften Blick, stündlich zu altern. Sie ergraut und weiß, dass sie jeden Moment der Tod erwartet, das zehrt an ihrer Figur wie an ihren Nerven.
Der Böse Wolf arbeitete noch ein bisschen weiter, bevor er die Seiten ausdruckte. Er wünschte sich, ein Dichter zu sein, um seine zwei verbliebenen Opfer eloquenter zu schildern. Der Gedanke an Rote Zwei stimmte ihn ein wenig traurig.
So hart es ist,
machte er sich klar,
du wirst ihre Grabinschrift in einem eigenen Kapitel schreiben müssen.
Er nickte, tippte rasch ein paar Notizen in eine eigene Datei mit der Bezeichnung
Rote Zwei und ihr Letzter Wille.
Bevor er das Kapitel schloss, an dem er gerade schrieb, überlegte er einen Moment, ob noch die Notwendigkeit bestand, seine Dateien zu verschlüsseln. Doch er glaubte nicht, dass er von Mrs. Böser Wolf etwas zu befürchten hatte. Eigentlich hatte er wohl nie etwas von ihr zu befürchten gehabt. Sie liebte ihn. Er liebte sie. Das Übrige war einfach Teil des Zusammenlebens.
Während ihm diese Überlegungen durch den Kopf gingen, klickte er sich ins Internet, zunächst, um eine Partie Solitaire zu spielen. Er übersprang die Flut täglicher Angebote, die er von
Writer’s Digest
und
Script
wie auch von ähnlichen Heften und Foren bekam, die ihn drängten, in ihre »Webinare« zu investieren oder DVD s zu kaufen und sämtliche Tricks seiner Zunft zu erlernen – wie man einen Verlag fand oder Optionen auf weitere Textverwertungen bekam. Alternativ konnte er Schritt für Schritt und Dollar für Dollar lernen, sein eigenes E-Book zu erstellen. Stattdessen öffnete der Böse Wolf eine regionale Seite mit der Wettervorhersage für die kommende Woche. Ein unablässiger, kalter Regen wäre für seine Pläne am Dienstag ideal, doch bevor er zum Wetterbericht kam, sprang ihm in den Kurznachrichten eine Schlagzeile ins Auge:
Samstag Gedenkgottesdienst für
ehemalige Lehrerin geplant.
[home]
35
R ote Zwei überlegte:
Was sollte man über den eigenen Tod sagen? Oder vielmehr: Was möchte man von jemand anderem darüber hören? War ich ein guter Mensch? Vielleicht nicht.
Sarah versuchte, die Gedanken zu ordnen, die sie bestürmten. Sie fühlte sich in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Die Schüsse, die gedämpft durch die dicken Ohrenschützer drangen, klangen wie ferner Donner. Im Stand neben ihr feuerte die Leiterin von
Safe Space
eine Salve aus ihrer Neun-Millimeter-Pistole ab, die sich wie geballte Wut entlud. Sarah hob die Waffe ihres toten Mannes auf Augenhöhe, hielt sie so, wie man es ihr gezeigt hatte, ruhig und mit beiden Händen, und nahm die schwarze Silhouette einer männlichen Cartoonfigur ins Visier. Die Pappfigur hielt ein großes Messer in der Hand, blickte ihr mit einem bösartigen Grinsen im vernarbten Gesicht entgegen und war auf der Brust mit einer deutlich sichtbaren Zielscheibe markiert. Sarah drückte drei Mal ab. Sie bezweifelte, dass der Pappkamerad dem Bösen Wolf irgendwie ähnlich sah, aber wer wusste das schon.
Vom Rückstoß spürte sie Schockwellen in den Armen, doch insgeheim war sie stolz darauf, dass sie nicht wie befürchtet nach hinten stolperte oder gar zu Boden ging.
Sie sah auf und spähte zur Pappfigur. Zwei Schuss hatten ein wenig außerhalb der Zielscheibe getroffen, der dritte dagegen hatte das Papier genau in der Mitte zerfetzt. Sie wusste nicht, ob es der erste oder der letzte gewesen war, doch es freute
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