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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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adretten, puritanisch züchtigen Kleid im Nebenzimmer und brütete über zwei Blättern, auf denen sie sich – nach Sarahs Angaben zu ihrem Lebenslauf – Notizen für eine kleine Ansprache gemacht hatte.
    Die Worte auf der Seite verschwammen ihr vor den Augen. Sie fühlte sich wie eine Legasthenikerin, als die Buchstaben auf dem Papier willkürlich hin und her zu springen schienen und sie völlig aus dem Konzept zu bringen drohten. Wie immer, wenn sie zum ersten Mal mit einer neuen Comedynummer auf die Bühne trat, nahm sie auch jetzt zu ein paar Atemübungen Zuflucht. Langsam ein. Langsam aus. Beruhige deinen Herzschlag.
    »Ich weiß, dass du hier bist«, flüsterte sie. Ein Mitarbeiter des Instituts, der ihr gegenübersaß, blickte mit gekonnt kummervollem Blick zu ihr auf, und sie begriff, dass er glaubte, sie spräche mit ihrer toten Freundin und nicht mit einem Mörder.
    »Die ersten Leute treffen ein«, sagte der Bestattungsunternehmer. Er war deutlich jünger als der Mann, mit dem sie vor einigen Tagen gesprochen hatte, beherrschte aber den feierlich ernsten Ton seiner Zunft schon recht gut. Sie vermutete, dass er ein Sohn oder Neffe des älteren Mannes war, der ins Familienunternehmen eingeführt wurde, und diese kleine Gedenkfeier stellte für ein Bestattungsinstitut ganz gewiss keine Herausforderung dar. Die Anwesenheit des Chefs erübrigte sich. Kein Sarg. Keine Leiche. Wenig Blumen. Schlimmstenfalls hier und da eine Gefühlsaufwallung.
    Falls er da draußen ist, dann nur, weil er sehen und hören will, was hier läuft.
Karen merkte, wie sich bei dem Gedanken, da hinauszugehen und sich vor den Wolf hinzustellen, ihr Puls wieder beschleunigte.
    »Ich geh jetzt raus«, sagte sie in kläglichem Ton.
    Zuvor hatte sie einen Stuhl mit gerader Rückenlehne hinter das Mikrofon gestellt. Während sie zum Podium ging, begrüßte sie jeden, der vom Parkplatz hereinkam, mit einem freundlichen Lächeln und stummen Nicken. Die Gesichter, die ihre Geste erwiderten, waren ihr alle unbekannt. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, ins Scheinwerferlicht zu treten. Sie wusste, in welche Gefahr sie sich begab. Nicht zu ändern. Wie ein orientalisches Mantra wiederholte sie unablässig den Gedanken, dass er sie nicht hier und jetzt töten würde. Jedenfalls hatte sie noch nie davon gehört, dass jemand in einem Bestattungsinstitut vor den versammelten Trauergästen ermordet worden war. Die Vorstellung war so abwegig, dass diese Logik ihr genügte, um die Nerven zu bewahren.
    Karen hatte noch nie eine Trauerrede gehalten, und schon gar nicht für jemanden, den sie kaum kannte und der in Wahrheit gar nicht tot war. Die Farce wäre urkomisch gewesen, wäre es dabei nicht um den Versuch gegangen, am Leben zu bleiben.
    Über die Toten soll man nichts Schlechtes sagen, dachte sie und fragte sich, woher diese Maxime ursprünglich stammte.
    Karen war von der Besucherzahl angetan. Sie hatte nicht gewusst, ob fünf oder fünfzig Leute kommen würden. Auch dass überhaupt niemand auftauchte, wäre im Bereich des Möglichen gewesen, doch die Zahl der Menschen, die zu der kleinen Feier strömten, übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Das war gut. Perfekt.
In einer größeren Menschenmenge wird er sich sicher fühlen. Er wird davon ausgehen, dass er sich gefahrlos unters Volk mischen kann. Wäre niemand erschienen, hätte er sich wahrscheinlich wieder verdrückt, um nicht zu riskieren, in dem leeren Raum aufzufallen.
    Sie fühlte sich wie unter Strom, ein wenig so wie sonst beim Betreten der Bühne unter freundlichem Applaus.
    Mach deine Sache gut. Sei überzeugend. Stelle klar, dass Sarah tot ist.
    Sooft sie auch vor einer erwartungsvollen Menschenmenge gestanden hatte, dies hier war ihr wichtigster Auftritt.
    Karens Blick fiel auf eine Frau und einen Mann sowie einen kleinen Jungen in einem zu engen weißen Hemd und mit einer roten Fliege um den Hals, die locker gebunden herabhing. Der Junge lehnte sich an eine ältere Schwester von vielleicht dreizehn, vierzehn Jahren, die sich mit einem Taschentuch die Augen tupfte. Die Familie blieb respektvoll vor dem Fotoarrangement stehen und betrachtete die Bilder, bevor sie ihre Plätze einnahm.
Eine ehemalige Schülerin,
stellte Karen fest,
und ein kleiner Bruder, der überall lieber wäre als hier.
    Kein Wolf.
    Der Raum füllte sich allmählich – eine bunte Vielfalt an Männern und Frauen aller Altersgruppen in Begleitung einiger Kinder. Die getragene Musik, die aus den verdeckten

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