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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sie, dass immerhin einer tödlich gewesen wäre.
    »Gut gemacht«, sagte die Leiterin, während sie sich um die Trennwand herum in Sarahs Schießstand lehnte. »Versuch mal, die Waffe in den Griff zu bekommen, wenn sie beim Schnellfeuer nach links und rechts ausschlägt. Und nicht vergessen: Immer die ganze Kammer abfeuern. Alle sechs Patronen hintereinander weg. Das erhöht deine Chancen. Wir haben jede Menge Munition und jede Menge Zeit.«
    Jede Menge Munition mag stimmen, dachte Sarah. Jede Menge Zeit wohl nicht.
    Sie ließ die Trommel aufschnappen, um sie aus einer Schachtel auf dem Schützenstand in Taillenhöhe neu zu laden.
    Sarah Locksley, vor dreiunddreißig Jahren geboren. Früher einmal glücklich. Dann nicht mehr. In einem Fluss geendet, weil ein Psychopath, der sie zu ermorden drohte, sie in noch größere Verzweiflung trieb, auch wenn sie ohnehin schon alles verloren hatte, wofür es sich zu leben lohnte, als ein gottverdammter Tankwagenfahrer ein Stoppschild überfuhr.
    Sie hob die Waffe und zielte erneut.
    So geht das nicht. Immerhin ist es ein Gedenkgottesdienst. Ein wenig Trauer und ein paar nette, unverfängliche Worte über einen Menschen, dessen Leben durch eine Tragödie zu früh geendet hat.
    Das bin ich. Ich bin dieser Mensch. Oder vielleicht mein Ex-Ich.
    Die Zielfigur ragte vor ihr auf. Sie konzentrierte den Blick und summte etwas vor sich hin, um nicht den Lärm der anderen Schüsse zu hören.
    Kein wahres Wort über Sarah Locksley.
    Sie schmunzelte. Irgendwie hätte sie es schön gefunden, heimlich zu der Gedenkfeier zu gehen. Mit Sicherheit hätte es ihr geholfen, von sich Abschied zu nehmen.
    Mach’s gut, Sarah. Hallo, Cynthia Harrison. Nett, deine Bekanntschaft zu machen. Und ich bin hocherfreut, dein Leben zu übernehmen.
    Die Schüsse hallten ihr wie ein Echo in den Ohren, und die Waffe in ihren Händen schlug heftig aus.
    Cynthia Harrison, ich frage mich, ob du peinlich berührt oder enttäuscht oder wütend wärst, wenn du wüsstest, dass ich unter deinem Namen einen Mann töten werde. Einen ungewöhnlichen Mann. Einen Bösen Wolf, der mit absoluter Sicherheit den Tod verdient. Immerhin hat er mich schon umgebracht.
    Diesmal landeten vier der sechs Schüsse in der Mitte, und der fünfte riss ein Loch in die Stirn der Zielfigur.
     
    Zwanzig Minuten vor Beginn der Feierstunde nahm Rote Drei die Videokamera, die sie im Einkaufszentrum erworben hatte, und brachte sie an einer Stelle an, wo die Linse alle erfasste, die zur Tür hereinkamen, stehen blieben und sich in ein »Gedenkbuch« eintrugen, bevor sie in dem kleinen Raum Platz nahmen. Sie war so eingestellt, dass sie zwei Stunden lang filmen würde, was Jordan für mehr als ausreichend hielt.
    Sie warf einen prüfenden Blick nach vorn. Karen hatte aus Fotos von Sarah und ihrer toten Familie eine Montage zusammengestellt. Die Bilder waren auf weißen Plakatkarton geklebt und an einem Stativ befestigt. Flankiert wurde die Tafel von weißen Liliengestecken, und davor hatte das Bestattungsunternehmen ein paar Stuhlreihen aufgestellt. Es gab ein kleines Podium mit einem Mikrofon, von dem aus Karen ein paar Worte an die Trauergäste richten würde.
    Einerseits verspürte Rote Drei den Drang zu bleiben. Sie spielte mit dem Gedanken, sich hinter einem Vorhang zu verstecken, stocksteif stehen zu bleiben und die Luft anzuhalten.
    Doch sie wusste, dass es sträflicher Leichtsinn wäre, selbst wenn sie sich versteckte.
    Und so raffte sie sich wenige Minuten, bevor die ersten Autos in den Parkplatz des Beerdigungsinstituts einbogen, auf und stahl sich davon. Sie trug ein dunkles Sweatshirt unter ihrem alten Parka und lief, die Kapuze des Sweaters tief ins Gesicht gezogen, zur nächsten Bushaltestelle.
    Zum ersten Mal seit Tagen wusste sie, dass ihr niemand folgte. Auch wenn sie keine logische Erklärung dafür fand, zog sie die Überzeugung nicht in Zweifel, weil ihr der kleine Beitrag zu der Totenfeier das gute Gefühl gab, dass sie ein wenig zum eigenen Schutz vor ihrem Mörder beigetragen hatte.
    Als der Bus mit einem schnaubenden Geräusch neben ihr anhielt und sich mit dem vertrauten hydraulischen Zischen die Türen öffneten, stieg sie ein. Jordan war sich wohl bewusst, dass sie jede Menge Schulvorschriften übertrat, indem sie an einem Samstag unerlaubt den Campus verließ. Es war ihr egal. Sie ging davon aus, dass solche schwerwiegenden Verstöße in den nächsten Tagen ihr geringstes Problem sein würden.
     
    Karen saß in einem

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