Der Wolf
Standbild der teilweise verdeckten Frau. Wieso konnte sie nicht einfach eines von diesen bedauernswerten Geschöpfen sein?
Natürlich war das möglich.
Vielleicht aber war sie das genaue Gegenteil.
Sarah musterte Karen und Jordan. Die beiden waren wie Feuer und Wasser. Der einen konnte es nicht schnell genug gehen, die andere war übervorsichtig. Es wäre schön, dachte sie, wenn ich als Stimme der Vernunft zwischen beiden vermitteln könnte. Doch dazu war sie nicht in der Lage. Eine innere Stimme sagte ihr, hier und jetzt das Weite zu suchen, sich ihr neues Leben als Cynthia zunutze zu machen und die anderen beiden allein mit dem Wolf herumschlagen zu lassen. Sie konnte sich in Sicherheit bringen, er würde sich mit den zwei verbliebenen Roten zufriedengeben. Sie wäre frei. Sarah packte eine Mischung aus Panik und Selbsterhaltungstrieb.
Sie kämpfte dagegen an.
»Uns bleibt nur eine Möglichkeit«, sagte sie in festem Ton wie eine Lehrerin, die eine unbändige Klasse zur Ordnung ruft. »Wir werden selbst zu Stalkern.«
Jordan wartete, bis das Zuschlagen der Tür durch das Wohnheim hallte. Sie trat an ihr Fenster und sah, wie die Lehrerin, die zugleich Vertrauensperson für ihr Wohnheim war, in die abendliche Dunkelheit davontrippelte.
Ihr folgte eine schnatternde Schar von Mädchen. Sie strömten zu einer Tanzveranstaltung in der Kunstgalerie der Schule. Schon jetzt dröhnten die Akkorde einer lokalen Rockband über den Campus, die
In the Midnight Hour,
den alten Song von Wilson Pickett, coverte. Jordan griff zu einem kleinen Schraubenzieher und ihrem eingeschweißten Schülerausweis. Sie hatte bereits die Schuhe ausgezogen, so dass sie leise über den Flur schleichen konnte.
Es hatte einen erheblichen Vorteil, in einem hundertfünfzig Jahre alten Haus zu wohnen, das in Einzelzimmer für Oberstufenschüler umgebaut worden war. Die Türschlösser waren notorisch veraltet und hielten keiner Sicherheitsvorschrift stand. Es gehörte zu den offenen Geheimnissen, die eine Generation von Bewohnern an die nächste weiterreichte, wie man mit der Plastikkante des Schülerausweises jedes Schloss knacken konnte.
Sie hoffte, dass die Tür zur bescheidenen Einzimmerwohnung der Lehrerin im Erdgeschoss dieselben Sicherheitsmängel aufwies.
Ihre Hoffnung ging in Erfüllung. Sie steckte die Kante zwischen Türpfosten und Schloss, drehte die Karte mit einer geschickten Bewegung, und das Schloss sprang auf. Der Zufall wollte es sogar, dass die Frau ihre Schreibtischlampe angelassen hatte, so dass Jordan sich zügig durch das Zimmer bewegen konnte, ohne über Möbel zu stolpern. Was sie suchte, musste entweder auf dem Schreibtisch oder in der Nähe des Telefons auf dem Nachttisch sein. Jordan brauchte gerade einmal anderthalb Minuten, um fündig zu werden.
Es war eine Mappe mit blauem Deckel, der die Aufschrift
Vertrauliches Personalverzeichnis
sowie Name und Logo der Schule trug. Die Schüler hatten keinen Zugang zu diesem Verzeichnis. Wenn sie – oder ihre ständig alarmierten Eltern – jemanden in der Verwaltung oder vom Lehrkörper erreichen wollten, so fanden sie auf der Website E-Mail-Adressen und offizielle Telefonnummern. Die Informationen dagegen, die Jordan unter einem Stapel Hausarbeiten hervorzog, waren nicht für die Allgemeinheit gedacht.
Sie blätterte darin, bis sie die Seite mit der Überschrift
Direktorat
fand.
Neben der Bezeichnung
Verwaltungssekretärin
stand ein Name. Es folgten die Telefonnummern von Büro- und Privatanschluss sowie eine Adresse und praktischerweise in Klammern der Name eines Mannes – des Ehemanns der Sekretärin.
Ihre Hand zitterte, als sie ihn las.
Bist du der Wolf?
Einen Moment lang drehte sich ihr der Kopf. Sie atmete ein paarmal tief ein, um ihren jagenden Puls zu normalisieren und den verkrampften Magen zu beruhigen. Dann schrieb sie sich den Eintrag aus dem Verzeichnis mit schwarzem Filzstift auf die Hand. Sie traute sich nicht über den Weg, wenn es darum ging, einen Zettel sicher aufzubewahren. Diese Information trug sie lieber wie ein Tatoo auf der eigenen Haut.
In Jordans Brust schlugen Ängste und Hoffnungen wie tosende Wellen aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander. Sie kämpfte tapfer gegen alle Emotionen an und mahnte sich, ruhig und umsichtig vorzugehen und das Verzeichnis genau an die Stelle zurückzulegen, an der sie es vorgefunden hatte. Sie überprüfte, ob sie in der Wohnung der Lehrerin auch nichts durcheinandergebracht und keinerlei Spuren
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