Der Wolf
Karen als Erstes eine heiße Dusche. Sie fühlte sich schmutzig, verschwitzt. Sie überlegte, ob man sich vor Angst schmutzig fühlen konnte. Es schien ihr wesentlich plausibler, dass ihr vermeintlicher Körpergeruch von der Nähe eines Menschen kam, in dem sie alle den Wolf vermuteten.
Mit nassen Haaren und in ein großes Handtuch gewickelt trat sie an den kleinen Schreibtisch im Zimmer und holte ihren Comedycomputer aus der Tasche. Mit den Witzen ist es vorbei, dachte sie und begann ihre Suche auf einer Reihe von Immobilienportalen wie Trulia und Zillow und wechselte dann zu anderen Websites, die von großen Hypothekenbanken unterhalten wurden. Sie brauchte nicht lange, um das Haus zu finden, in dem die Sekretärin und ihr Mann wohnten. Eines dieser Portale lieferte sogar die dazugehörigen Innenfotos und eine virtuelle Führung dazu.
Wie ein potentieller Käufer betrachtete sie die Fotos auf dem Bildschirm und folgte der Kamera durchs Haus. Eingangstür. Nach rechts. Wohnzimmer, Wohnküche. Arbeitszimmer im Erdgeschoss. Die Treppe hoch ins Obergeschoss. Zwei kleine Schlafzimmer »perfekt für die junge Familie« und ein Elternschlafzimmer mit angrenzendem Bad. Ausgebautes Kellergeschoss.
Sie starrte auf die Fotos. Bescheidene Vorstadtidylle mit Neuengland-Charme. Das große Versprechen an die amerikanische Mittelschicht, der Traum vom Eigenheim. Sie fand sogar heraus, wie viel die Sekretärin und ihr Mann im Vorjahr an Grundsteuer gezahlt hatten.
Der Anblick des Hauses, dem sie einen Besuch abzustatten gedachten, weckte eine Assoziation – ein alter Rocksong, der oft auf den Radiosendern mit den »Golden Oldies« lief. Im Takt zu der Musik in ihrem Kopf murmelte sie: »Monday, Monday. Can’t trust that day.«
Karen ignorierte die Warnung und schickte eine SMS an die anderen beiden Roten:
Morgen
14
und
2
.
Das sollte reichen; sie würden wissen, wie die Zeitangabe zu verstehen war.
[home]
40
14 Uhr
Er führte sie zum Mittagessen aus – ein unverhofftes Vergnügen.
Mrs. Böser Wolf ließ auf ihrem Schreibtisch Lehrergutachten und Disziplinarberichte zurück, die in die entsprechenden Aktenordner einzuheften waren. Sie legte die langatmige Analyse eines Kuratorenkomitees über mögliche neue Einnahmequellen beiseite sowie ein Schreiben vom Fachleiter für Englisch mit einer ausführlichen Begründung, weshalb das Angebot in seinem Fach über die traditionelle Literatur von Dickens bis Faulkner hinaus um Kurse über moderne Kommunikationsmittel wie Twitter und Facebook erweitert werden müsse. Gut gelaunt traf sie sich mit ihrem Mann in einem chinesischen Restaurant in der Innenstadt, wo sie zu scharf gewürzte Gerichte aßen und dünnen, grünen Tee dazu tranken. Sie hegte die Vermutung, dass er einen besonderen Grund hatte, mit ihr essen zu gehen – denn wie in jeder langjährigen Ehe bekamen spontane Gesten der Zuneigung immer größeren Seltenheitswert –, doch das machte ihr nichts aus. Sie ließ sich die gedünsteten Klöße in Miso-Soße auf der Zunge zergehen.
Die Kellnerin kam und fragte, ob sie ein Dessert bestellen wollten.
»Ich denke, ein Eis«, sagte der Böse Wolf und sah seine Frau an.
»Nein, nichts Süßes. Muss auf die Figur achten.«
»Ach, komm schon«, sagte er in neckendem Ton. »Einmal ist keinmal.«
Sie lächelte. Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. Wie Teenager, dachte sie.
»Also gut«, sagte sie lächelnd zu der Kellnerin. »Dann nehme ich auch ein Eis.«
»Vanille, nichts Besonderes«, sagte der Böse Wolf. »Wir sind ein bisschen fade.«
Der Witz ging an der Kellnerin vorbei, und so lachten sie miteinander, als die Bedienung fort war.
Er ließ ihre Hand nicht los, sondern beugte sich über den schmalen Tisch zu seiner Frau vor.
»In den nächsten Tagen«, sagte er so vage, wie er konnte, aber mit einem verhaltenen Grinsen im Gesicht, »stelle ich vielleicht meinen Tagesrhythmus ein bisschen um. Möglicherweise stehe ich früh auf oder bleibe abends länger weg, bin nicht immer zum Essen zurück.«
»In Ordnung«, sagte sie und nickte.
»Kein Grund zur Sorge.«
»Ich bin auch nicht besorgt. Ist es wichtig?«
»Letzte kleine Recherchen.«
Sie lächelte. »Die letzten Kapitel?«
Statt einer Antwort kam ein noch strahlenderes Lächeln, was sie als ein Ja verstand. Es war ihr recht.
Kreativität hält sich nicht an Bürozeiten.
Sie sah ihn an. Tief in ihrem Innern formte sie Worte, in denen sich Zweifel und Ängste artikulierten.
Wird er
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