Der Wolf
töten?
Mit erstaunlicher Wendigkeit wich sie diesen Anwandlungen aus, und die kleinen Plagegeister in ihrem Kopf gaben Ruhe. Es war ihr egal, was er tat oder wem er etwas anzutun gedachte.
Es ist nichts weiter als Recherche, hat er selbst gerade gesagt.
Was früher gewesen sein mochte, womit sie künftig zu rechnen hatte, was er vielleicht einmal gewesen war oder einmal werden würde, das alles zählte nicht im Vergleich zu diesem Moment, in dem sie in einem billigen Chinarestaurant Händchen hielten.
Liebe ist niemals fade, dachte sie.
Der Böse Wolf setzte seine Frau an der Schule ab und winkte ihr ausgelassen hinterher, als sie im Verwaltungsgebäude verschwand. Doch schon im nächsten Moment hatte er Wichtigeres im Kopf.
Zwei Besorgungen musste er noch machen, beide nicht besonders kompliziert. Einen wasserfesten Tarnanzug für Jäger aus jenem Sportgeschäft, in dem, was er nicht wissen konnte, einen Tag zuvor Rote Zwei eingekauft hatte, sowie einen preiswerten blauen Blazer und eine graue Hose aus dem Secondhand-Laden der Heilsarmee. Für Rote Eins sollte er nahtlos mit dem Wald hinter ihrem Haus verschmelzen. Für Rote Drei wollte er wie ein Lehrer erscheinen oder wie ein Vater auf Besuch, wozu er auf die geringe Gefahr hin, dass ihn auf dem Campus jemand sah, Jackett und Krawatte tragen musste. Natürlich würde er niemandem ins Auge springen. Ein falscher Bart. Brille. Mit Gel zurückgekämmtes Haar. Die Gefahr, dass ihn jemand erkannte, ging gegen null, und wer würde der Beschreibung irgendeines Teenagers Glauben schenken, noch dazu von jemandem, den man nur für ein paar Sekunden aus der Ferne gesehen hatte? Außerdem würde es Stunden dauern, bis sie die Leiche von Rote Drei entdeckten. Das war in seinen Augen das wirklich Bemerkenswerte an beiden Morden. Beide Male wäre er so gut wie unsichtbar.
Der Böse Wolf ging im Kopf noch einmal seine Liste durch.
Kleider.
Erledigt.
Verkehrsmittel.
Gestohlene Nummernschilder wären hilfreich.
Waffe.
Er hatte sein Messer rasierklingenscharf gewetzt.
Jetzt ging es nur noch darum, seine ganze Konzentration auf seine Beute zu richten, um die er immer engere Kreise zog. Auf dem Rückweg nach Hause kostete er die Vorfreude aus und malte sich aus, was der kommende Tag für ihn bereithalten würde. Es würde sein wie ein unerwarteter Anruf von einem alten Freund, der zwar weit weg wohnte, aber immer noch ein lieber und wichtiger Mensch war. Er rief sich Erlebnisse ins Gedächtnis, die, obwohl fünfzehn Jahre her, frisch und lebendig waren, so vertraut wie eine Stimme, die man seit einer Ewigkeit kennt.
Der Priester arbeitete in seinem Kellerbüro an einer Predigt für den nächsten Sonntag, und so trafen sich die drei Roten in den Kirchenbänken vor einer riesigen Skulptur des gekreuzigten Jesus, der im Sterben unter seiner Dornenkrone den Kopf senkte.
Als Karen ihnen das Straßenvideo vorführte, saßen sie auf den unbequemen Bänken und rutschten auf dem harten Holz herum. Sie versuchten, sich Einzelheiten und Orientierungspunkte einzuprägen. Alle hatten sie Mühe, bei der Sache zu sein. Sie wussten, dass sie sich von heute auf morgen als versierte Mörder bewähren mussten, doch gerade jetzt, wo sich ihre Aufmerksamkeit wie ein Laserstrahl hätte bündeln sollen, schweiften ihre Gedanken zu allen möglichen, wenig sachdienlichen Überlegungen ab, als ob sie die Auseinandersetzung mit dem, was sie gerade planten, dazu zwang, innerlich eine andere Richtung einzuschlagen. Karen setzte zu einer Entschuldigung für die Qualität des Videos an, verstummte aber sofort, weil sie ihrer Stimme nicht traute.
Für jemanden, der sich etwas auf Umsicht und Organisationstalent zugutehielt, schien alles planlos, desorganisiert und vieles einfach dem Zufall überlassen. Karen hatte das Gefühl, nicht die disziplinierte Ärztin, sondern die verrückte, wilde Komikerin in ihr habe die Planung des Mordes übernommen. Sie fühlte sich außerstande, ihrem nüchternen Medizinerverstand die Führung zu überlassen. Und so flüchtete sie sich in ihre Computertastatur, um mit wenigen Klicks das Anschauungsmaterial des Immobilienportals vorzuführen, das sie am Vorabend aufgespürt hatte.
Als sie fertig waren, lehnten sich alle drei Frauen stumm zurück.
Sarah bückte sich und hob die drei Taschen hoch. Sie reichte den anderen beiden je eine mit den für sie bestimmten Einkäufen. Die gelbe behielt sie für sich.
Obgleich die Situation Dutzende von Fragen nahelegte,
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