Der Wolf
schwiegen sie mehrere Minuten lang. Ein zufälliger Beobachter hätte gedacht, sie beteten zusammen.
Jordan sah vom Laptop auf und betrachtete die religiösen Bildnisse, die sie umgaben. Die Skulptur war aus dunkelbraunem Holz, mit goldenen Streifen, wo rotes Blut hätte sein müssen. An der Decke spiegelte sich das Blau, Grün und Gelb großer Buntglasfenster. Ihr wurde bewusst, dass es ein ungewöhnlicher Ort war, um einen Mord zu planen, doch dann zuckte sie unwillkürlich die Achseln und räumte ein, dass jeder Ort, an dem eine verwöhnte Internatsschülerin aus reichem Hause einen Mord plante, ungewöhnlich wäre. Sie schielte zu Karen hinüber.
Sie ist Ärztin. Sie hat Tote gesehen. Sie muss wissen, was sie tut.
Als sie sich zu Sarah umdrehte, kam ihr mehr oder weniger der gleiche Gedanke.
Bei ihr hat der Tod brutal und ungerecht an die Tür geklopft. Das muss sie so wütend gemacht haben, dass sie jetzt bereit ist zu töten.
Jordan dachte daran, dass sie die Einzige von ihnen war, die nicht schon unmittelbar mit dem Tod konfrontiert worden war. Sie rechnete nicht damit, dass diese Jungfräulichkeit die Nacht überdauern würde.
2 Uhr
Karen schlich sachte zur Hintertür ihres Hauses hinaus und ließ sich augenblicklich fallen. Sie krabbelte auf allen vieren über die kleine Veranda, indem sie hinter Gartenmöbeln Deckung suchte, die sie vor dem Winter nicht hereingeholt hatte, um schließlich auf die feuchte, kalte Erde zu gleiten. Das Haus hinter ihr lag in völliger Dunkelheit, und sie klammerte sich an die tiefen Schatten wie ein Bergsteiger an das Seil. Sie richtete sich etwas auf und sprintete geduckt zur Eingangsseite.
Falls er mich beobachtet, dann versteckt er sich dort.
Doch das durfte natürlich nicht sein. Falls der Wolf sie beobachtete, wäre er nicht da, wo sie hinwollten, und alles, was sie in dieser Nacht vorhatten, wäre vergebens, wenn nicht schlimmer. Wild schwirrten ihr die Gedanken durch den Kopf. Mittlerweile hatte ihr verrücktes Alter Ego von jeder Faser ihres Wesens Besitz ergriffen, und so versteckte sie sich vor Augen, die sie unmöglich beobachten konnten, wenn denn ihr Plan gelingen sollte.
Sie warf sich ans Steuer ihres Wagens und ließ die blaue Segeltuchtasche neben sich auf den Sitz fallen. Zunächst bekam sie den Schlüssel nicht ins Zündschloss, doch schließlich rollte sie im bleichen Mondlicht die Einfahrt hinunter, ohne die Scheinwerfer anzumachen. Wieder wusste sie, wie albern das war.
An der Straße blieb Karen einen Moment stehen, bevor sie abbog. Sie wollte sich fünf Minuten geben. Falls sie in dieser Zeit einen anderen Wagen sah, würde sie davon ausgehen, dass es der Wolf war.
Sie fragte sich: Würde ein Mörder so handeln?
Sie zitterte und holte ein paar Mal tief Luft, um sich zu beruhigen.
Man liest Bücher. Man sieht fern. Man geht ins Kino. Du hast schon tausend Geschichten gesehen, wo die Bösen oder Guten ein Mordkomplott geschmiedet haben. Mach es ihnen einfach nach. Nur dass das hier real ist.
Natürlich war das nichts weiter als lächerlicher Selbstbetrug.
Egal wie viele Morde du im Fernsehen gesehen hast, sie alle zusammengenommen können dir nicht sagen, was du machen musst.
Sie legte den Gang ein, behielt sämtliche Rückspiegel im Auge und fuhr zügig Richtung Stadt. Eine entscheidende Zwischenstation stand noch auf dem Programm, bevor sie die anderen abholte: ihre Praxis.
Jordan hatte nicht geschlafen.
Kurz nach ein Uhr morgens, als sie lange genug reglos auf dem Bett gelegen und an die Decke ihres Zimmers gestarrt hatte, war sie aufgestanden und hatte sich angezogen. Die schwarze lange Unterwäsche kam unter die Jeans. Dann schlüpfte sie in das schwarze Sweatshirt. Sie steckte das Handy und ihr Messer in die grüne Leinentasche und zog sich die schwarze Sturmmütze über den Kopf. Die neuen Sportschuhe, die Sarah gekauft hatte, packte sie zuoberst, um sie griffbereit zu haben. Vorerst zog sie die Tanzschläppchen an.
Sie stand auf und drehte sich langsam um die eigene Achse. Die Kleidung, die sie trug, raschelte nicht einmal.
Jordan warf einen prüfenden Blick durchs Zimmer und versuchte, sich noch einmal alles Wichtige ins Gedächtnis zu rufen. Von einer Straßenlaterne direkt hinter ihrem Fenster drang gelber Schimmer in ein paar Ecken. Es war wie das Packen für eine Ferienreise; sie hatte Angst, etwas Wesentliches zurückzulassen. Allerdings ging es nicht um einen Pass oder den Badeanzug.
Allein bei der Vorstellung, sich
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