Der Wolf
beobachten konnte. Bei schlechtem Wetter wie an diesem Tag suchte sie sich mit ihrer Mahlzeit irgendwo innen ein stilles, ungestörtes Fleckchen; eine Nische in der Kunstgalerie, eine Bank im Bürotrakt des englischen Instituts.
Diesmal hockte sie sich in einen leeren Hörsaal. Jemand hatte an die Tafel geschrieben: »Worum geht es Márquez?« Leistungskurs Spanisch, so viel war klar, doch ob es um
Hundert Jahre Einsamkeit
ging, konnte sie nur raten. Mit ihrem Imbiss war sie schnell fertig, dann lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und schlug das letzte Buch ihres Mannes auf. Den Roman mit dem Sägemesser auf dem Cover. Sie hatte das Buch mindestens vier Mal gelesen und kannte inzwischen einige Passagen auswendig. Sie hatte ihm das nie verraten – es gehörte zu den kleinen Liebesbeweisen, die sie für sich behielt.
Ebenso wenig wusste er, dass sie, kurz nachdem sie von seiner Beschwerde über die Einbandgestaltung erfahren hatte, dem Verleger einen wütenden Brief geschrieben hatte, in dem sie dieses Problem unterstrich. Sie waren kaum ein Jahr verheiratet gewesen, doch Loyalität war ihrer Meinung nach ein unverzichtbarer Aspekt aufrichtiger Liebe. Sie hatte dem Mann die Leviten gelesen und ihm erklärt, das Motiv sei unpassend und irreführend und sie werde nie wieder ein von ihm verlegtes Buch kaufen. Entgegen ihrer Art hatte sie sich in dem Brief in heftigen Drohungen und üblen Beschimpfungen ergangen.
Sosehr sie sich auch mitreißen ließ, war sie zumindest so klug gewesen, den Brief nicht mit einem Absender zu versehen.
Es war warm im Hörsaal. Sie schloss einen Moment die Augen.
Wenn sie sich Tagträumen hingab, versetzte sie sich oft in einen öffentlichen Rahmen – ein Restaurant, ein Kino oder auch eine Buchhandlung –, wo sie dem Verleger, allen Verlegern, die das Genie ihre Mannes verkannten, ihre Empörung ins Gesicht schleudern konnte. In ihrer Phantasie zitierte sie all diese verblendeten Menschen zu sich, einschließlich der Filmproduzenten, der Zeitungskritiker und des einen oder anderen Internetbloggers, jeden, der ihm die verdiente Anerkennung vorenthalten oder sich abfällig über ihn geäußert hatte.
Vor ihrem inneren Auge wanden sich die Männer – allesamt klein, mit Hühnerbrust und schütterem Haar – unter ihrer vernichtenden Kritik und räumten zerknirscht ihre Fehler ein. Diese Vorstellung erfüllte sie mit tiefer Befriedigung.
Zweifellos, so dachte sie, empfand jede Ehefrau eines Schriftstellers ähnlich, es war ihre Pflicht.
Mrs. Böser Wolf öffnete die Augen und richtete den Blick auf das Buch in ihrem Schoß. Mit dem Finger tippte sie unter eine Zeile mitten in einem Absatz, in dem der Anfang einer rasanten Verfolgungsjagd mit dem Auto beschrieben wurde. Der Böse entwischt, entsann sie sich. Es war sehr spannend.
Als Kind war sie in der Schule nicht sehr beliebt gewesen, und so hatte sie bei Büchern Zuflucht genommen. Pferdebücher. Hundebücher.
Betty und ihre Schwestern
und später
Jane Eyre.
Auch als sie längst erwachsen war, blieben Bücher und Romanfiguren ihre verlässlichsten Freunde.
Ab und zu regte sich in ihr der Wunsch, selbst mit dem richtigen Blick und der nötigen sprachlichen Begabung einer Schriftstellerin gesegnet zu sein. Sie sehnte sich nach Kreativität. Am College hatte sie Schreibkurse, Kunstkurse, Fotografiekurse, sogar Poesiekurse belegt und Ballettunterricht genommen – und in allen mittelmäßig abgeschnitten. Es machte sie traurig, dass ihr jegliche Erfindungsgabe abging. Immerhin musste man ihr lassen, das Nächstbeste erreicht zu haben: ein Leben an der Seite eines Mannes, der diese Kunst beherrschte.
Sie unterbrach die Lektüre. Sie spürte innerlich ein leichtes Kribbeln. Was sie in Händen hielt, war schön – aber nicht neu. Sie ließ das Buch aufgeschlagen auf dem Schoß, lehnte sich zurück und schloss ein zweites Mal die Lider, als könnte sie vor ihrem geistigen Auge ein Bild von der neuen Geschichte heraufbeschwören, die ihr Mann gerade schrieb. Es würde einen erbarmungslosen Mörder geben, so viel war klar, und einen klugen Ermittler, der ihn jagte. Es gäbe eine Frau in Bedrängnis. Wahrscheinlich eine ziemlich schöne Frau, auch wenn sie hoffte, dass – abgesehen von den großen Brüsten und den langen Beinen – sie selbst für die Figur Pate stehen würde. Die Geschichte würde sich entfalten, voller unerwarteter, überraschender Drehungen und Wendungen, die, egal wie obskur, unweigerlich auf die
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