Der Wolf
Straßen eine gereizte Energie. So viele Menschen, die möglichst schnell nach Hause wollten und damit den Verkehr nur noch mehr ins Stocken brachten. Kontraproduktiv. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich früher einmal am Ende eines Schultags genauso verhalten hatte. Kaum hatte sie alle ihre Schulsachen eingepackt, konnte sie nicht schnell genug nach Hause kommen, wo sich ihr eigentliches Leben abspielte, oder das, was sie für ihr eigentliches Leben hielt. Ihre Tochter von der Kita abholen, Abendessen machen, darauf warten, dass ihr Mann von der Feuerwehr nach Hause kam.
Hinter ihr hupte jemand. Sie trat aufs Gas, obwohl sie wusste, dass sie denjenigen auch so nicht davon abbringen konnte, sich rüde zu benehmen.
Für die Strecke zum Friedhof brauchte sie fast eine halbe Stunde. Er lag in der Nähe eines großen Parks, die letzten Ausläufer der Stadt wirkten hier beinahe ländlich.
Die Gräber lagen ein wenig zurückgesetzt an einem kleinen Hang mit Bäumen. Die befahrbaren Wege schlängelten sich ohne erkennbare Ordnung zwischen den grauen Grabsteinen hindurch. Es gab Fußwege, die zu aufwendig verzierten Familiengrüften und im Schatten wachenden Engelsstatuen führten. Es herrschte nur noch Dämmerlicht, und von den Eichen, die überall auf dem Gelände wuchsen, schienen sich dunkle Schleier herabzusenken. In einer Ecke, in der er leicht zu übersehen war, stand ein bescheidener Bau mit einem kleinen Bagger und Schaufeln.
Sie war allein.
Auf einigen Gräbern welkten Blumen vor sich hin. Andere waren mit fadenscheinigen, zerfetzten amerikanischen Fahnen geschmückt. Auf einigen war die Erde frisch umgegraben. Andere waren über die Jahre verwittert. Die Grabsteine trugen Namen, Daten sowie kurzgefasste Gefühle –
geliebter, treu sorgender …
Stumm reihten sich vor ihr die Abschiede von Jahrzehnten aneinander.
Sarah hielt an und griff nach den beiden Blumensträußen.
Lange her, seit du das letzte Mal hier warst, stellte sie fest.
Reiß dich zusammen.
Sie konnte nicht sagen, ob diese Aufforderung sich auf den Wolf oder die beiden Menschen bezog, die ihr genommen worden waren. Sie wünschte sich, ihr Mann oder ihre Tochter würden ihr etwas zuflüstern, doch es herrschte nichts als Friedhofsstille.
Ein wenig unsicher lief sie an zwei Schutzengeln mit Posaunen vorbei, denen die steinernen Gestalten, so fest sie auch hineinbliesen, keinen Ton entlockten, dann folgte sie den Reihen einfacher, grauer Ruhestätten. Sie hörte ihre Sohlen bei jedem Schritt auf dem schwarzen Asphalt klackern. Einerseits wünschte sie sich in diesem Moment, betrunken zu sein, andererseits wusste sie nur zu gut, dass kein Alkohol der Welt den niederschmetternden Ernst des Augenblicks ertränken könnte. Die unterschiedlichsten Emotionen bestürmten sie gleichzeitig, und sie hatte das Gefühl, als säße sie in einer Achterbahn, die aus der Spur rast.
Sie legte sich zurecht, was sie zu ihrer getöteten Familie sagen sollte.
Worte wie
Es tut mir leid
oder
Ich bin auf eure Hilfe angewiesen, um das durchzustehen,
lagen ihr auf der Zunge, und sie packte die Sträuße beinahe so fest wie kurz zuvor den Revolver.
Sarah wusste, wie viele Schritte es bis zu den Gräbern waren. Sie hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf den Weg gerichtet, als hätte sie Angst, die Namen auf dem grauen Marmorgrabstein zu lesen, die auf sie warteten. Als sie wusste, dass sie da war, blieb sie stehen, atmete einmal tief ein und hob den Blick.
»Ihr fehlt mir so sehr, und jetzt will mich jemand töten …«, platzte sie ohne nachzudenken heraus.
Doch als hätte ihr jemand mit einer Rasierklinge quer über die Zunge geschnitten, verstummte die dürftige Botschaft an ihren Mann und ihre Tochter.
Sie starrte durch die Dämmerung auf den Grabstein.
Zuerst konnte sie nur den Gedanken fassen: Hier stimmt etwas nicht.
Angestrengt fixierte sie den granitfarbenen Stein.
Graffiti, dachte sie zuerst. Eine Woge der Empörung erfasste sie.
Das ist entsetzlich, dachte sie. Was für widerliche, gedankenlose, hirnverbrannte Jugendliche schnappen sich eine Sprühdose und verunstalten ein Grab? Ist denen nicht klar, dass sie jemandem das Herz brechen?
Sie trat einen Schritt näher heran und sah genauer hin.
Das ist es nicht.
Sie merkte, dass sie in kurzen, flachen Zügen gegen das Dunkel anatmete. Statt der eckigen Symbole von Teenager-Gangs oder eines Spitznamens in verknäulter Schrift hatte sie etwas ganz anderes vor sich. Es waren auch nicht die
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